BFH konkretisiert Zugangsvermutung bei der Bekanntgabe von Steuerverwaltungsakten

In einer aktuellen Entscheidung hat der BFH (20.2.2025 – VI R 18/22) entschieden, dass die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) gilt, auch wenn Post regelmäßig nicht an allen Werktagen zugestellt wird. Was bedeutet das und was ist in der Praxis zu beachten?

Regelungshintergrund

Nach § 122 Abs.2 Nr.1 AO gilt ein schriftlicher (Steuer-)Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, als bekannt gegeben bei einer Übermittlung im Inland am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist; im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Durch das Postrechtsmodernisierungsgesetz (PostModG) vom 15.7.2024 (BGBl I 2024 Nr. 236) hat der Gesetzgeber die (Post)Laufzeitvorgaben für Briefe um einen Tag verlängert; ich habe dazu im Blog berichtet. Bis Ende 2024 mussten (Inlands-)Briefe von einem Universalpostdienstleister im Jahresdurchschnitt mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 % am zweiten Werktag und von 99 % am dritten Werktag nach dem Absenden beim Empfänger ankommen. Seit 1.1.2025 müssen Briefe erst am dritten bzw. am vierten Werktag (§ 18 PostModG) zugehen. Die Zustellung hat nach § 19 PostModG weiterhin werktäglich zu erfolgen. Zudem hat der Gesetzgeber die AO an die geänderten Laufzeitvorgaben angepasst. Statt der Drei-Tages-Vermutung für die Bekanntgabe von Verwaltungsakten nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 und Abs. 2a AO sowie § 122a Abs. 4 S. 1 AO gilt seit dem 1.1.2025 eine Vier-Tages-Vermutung.

Sachverhalt im Streitfall

Das beklagte Finanzamt (FA) erließ aufgrund der durch die Klägerin selbst erstellten Einkommensteuererklärung einen Einkommensteuerbescheid für 2017 am Freitag, dem 15.6.2018, der am selben Tag noch zur Auslieferung an die Klägerin an ein Postdienstleistungsunternehmen übergeben wurde, das im Wohnviertel der Klägerin Post nur an maximal fünf Arbeitstagen der Woche zustellt. Die Klägerin war vom 2.5.2018 bis 19.6.2018 (Tag der Rückkehr) beruflich von ihrer Wohnung abwesend und beauftragte in dieser Zeit Nachbarn mit der Briefkastenleerung. Nach Rückkehr übersandte die Klägerin den am 19.6.2018 im Briefkasten vorgefundenen Steuerbescheid am gleichen Tag per Telefax an den Steuerberater. Dieser legte am 19.7.2018 namens der Klägerin Einspruch ein und gab an, dass der Bescheid am 19.6.2018 eingegangen sei. Das FA verwarf den Einspruch als unzulässig, da die Zugangsvermutung innerhalb der 3-Tages-Frist (§ 122 Abs.2 Nr.1 AO) des am 15.6.2018 durch Zentralversand übergebenen Bescheides durch den Vortrag der Klägerin nicht erschüttert werde und die Einspruchsfrist daher am 18.7.2018 abgelaufen sei. Der hiergegen erhobenen Klage wurde stattgegeben (FG Berlin-Brandenburg v. 24.8.2022 – 7 K 7045/20) – weitere Details s. NWB Online-Nachricht v. 02.05.2025.

Entscheidung des BFH

Der BFH hat die Vorentscheidung jetzt aufgehoben und die Klage unter Anwendung des § 122 Abs.2 Nr.1 AO abgewiesen. Der Einkommensteuerbescheid für das Streitjahr gilt als am 18.6.2018 bekanntgegeben. Die einmonatige Einspruchsfrist begann demnach am 19.6.2018 und endete mit Ablauf des 18.7.2018. Da der Einspruch erst am 19.7.2018 beim FA einging, hatte das FA diesen zutreffend als unzulässig verworfen.

Was ist nach der BFH-Entscheidung zu beachten?

  • 122 Abs. 2 Nr. 1 AO greift nur dann ein, wenn feststeht, wann der mit einfachem Brief übersandte Verwaltungsakt tatsächlich zur Post aufgegeben worden ist (BFH  v. 26.2.2020 – VIII B 56/19, Rz 8). Lässt sich das Datum der Aufgabe zur Post nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststellen, ist § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erst gar nicht anwendbar (BFH v. 9.12.2009 – II R 52/07).
  • Zwar hat nach § 122 Abs.2 Nr.1 AO im Zweifel die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb der Dreitagesfrist des  122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen nach der ständigen Rechtsprechung des BFH im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen (vgl. BFH v. 14.6.2018 – III R 27/17). Er muss also Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften
  • Der Umstand, dass der vom FA beauftragte Postdienstleister an der Anschrift des Bekanntgabeadressaten an einem Werktag innerhalb der Dreitagesfrist keine Zustellungen vornimmt, steht der Zugangsvermutung in § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht entgegen. Dies gilt auch dann, wenn an zwei aufeinanderfolgenden Tagen keine Postzustellung erfolgt, weil der zustellfreie Tag an einen Sonntag grenzt.
  • Bei der in  122 Abs. 2 Nr. 1 AO geregelten Drei-/Vier-Tages-Vermutung handelt es sich um eine Frist und nicht um einen Termin. Folglich verlängert sich diese Frist in entsprechender Anwendung von § 108 Abs. 3 AO (BFH v. 5.5.2014 – III B 85/13,) bis zum nächstfolgenden Werktag, wenn das Ende der Drei-/Vier-Tage-Frist auf einen Sonntag, gesetzlichen Feiertag oder Sonnabend fällt (BFH v. 23.9.2003 – IX R 68/98,).

 

Praktische Relevanz

Das Urteil ist deshalb von großer praktischer Bedeutung, weil bei verspätet eingelegten Rechtsbehelfen – wie im Streitfall – der Streit allein wegen der Verfristung verlorengeht, selbst wenn der Steuerpflichtige in der Sache Recht hat.

Für Angehörige der steuerberatenden Berufe ist die Entscheidung ein wichtiges Signal, dass mit der Einlegung von Rechtsbehelfen gegen Steuerbescheide im Auftrag von Mandanten nicht bis „auf den letzten Drücker“ abgewartet werden sollte, um keine Verfristung zu riskieren; anderenfalls droht dem Steuerberater ein Haftungsrisiko. Außerdem müssen Steuerpflichtige und ihre Berater die Einspruchsbegründung sorgfältig abwägen, weil es einen Unterschied macht, einen Steuerverwaltungsakt überhaupt nicht erhalten zu haben oder aber „nur“ behauptet wird, der Bescheid sei nicht innerhalb der Vier-Tages-Frist (früher drei Tage) zugegangen.

Diese feine Unterscheidung kann bares Geld im Streit mit dem Fiskus wert sein.

Ein Beitrag von:

  • Prof. Dr. jur. Ralf Jahn

    • Studium der Rechtswissenschaften in Würzburg
    • Hauptgeschäftsführer der IHK Würzburg-Schweinfurt
    • Honorarprofessor an der Universität Würzburg

    Warum blogge ich hier?
    Mein erster Blog bietet die Möglichkeit, das Thema der Pflicht der „Pflichtmitgliedschaft in Kammern“ „anzustoßen“ und in die Diskussion zu bringen. Bei genauem Hinsehen sichert der „Kammerzwang“ nämlich Freiheitsrechte durch die Möglichkeit zur eigenverantwortlichen Partizipation.

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