Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, gilt bei einer Übermittlung im Inland am vierten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Diese Vier-Tages-Frist wird als Bekanntgabefiktion oder Zugangsvermutung bezeichnet (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 AO). Bis einschließlich 2024 galt eine Drei-Tages-Frist. Seit die Finanzverwaltung immer öfter private Postdienstleister einsetzt, gibt es vermehrt Zweifel, ob die Bekanntgabefiktion, also die Vier-Tages-Frist bzw. die frühere Drei-Tages-Frist, zu halten ist.
Bereits im Jahre 2018 hat der BFH die Bedenken aufgegriffen. Mit Urteil vom 14.6.2018 (III R 27/17) hat er wie folgt entschieden: Die Zugangsvermutung für die Bekanntgabe schriftlicher Verwaltungsakte gilt zwar auch bei der Übermittlung durch private Postdienstleister. Bei der Einschaltung eines privaten Postdienstleisters, der mit einem Subunternehmer tätig wird, ist allerdings zu prüfen, ob die organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen des Dienstleisters tatsächlich ausreichend sind, um eine regelmäßige Zustellung innerhalb von drei Tagen zu gewährleisten.
Nun hat sich der BFH erneut mit der Bekanntgabefiktion beim Einsatz von privaten Postdienstleistern befasst: Die Bekanntgabevermutung ist ohne Weiteres entkräftet, wenn innerhalb der (damaligen) Drei-Tages-Frist an zwei Tagen planmäßig keine Post zugestellt und am dritten Tag lediglich die Post vom ersten zustellfreien Tag nachgeliefert wird (BFH-Urteil vom 29.7.2025, VI R 6/23).
Der Sachverhalt:
Der Kläger hatte über seinen Steuerberater (dem Prozessbevollmächtigten) Einspruch gegen seinen Einkommensteuerbescheid eingelegt. Den Einspruch wies das Finanzamt mit Entscheidung vom 28.1.2022 (einem Freitag) als unbegründet zurück. Die Einspruchsentscheidung wurde mit einfachem Brief versandt und dem Postdienstleister des Finanzamts auch gleich am 28.1.2022 übergeben. Dieser stellte im Gewerbegebiet, in dem das Büro des Steuerberaters belegen ist, regelmäßig von Dienstag bis Freitag zu. Die Post für die Samstagszustellung wurde nur ausnahmsweise standardmäßig am darauffolgenden Montag zugestellt. Im Büro des Steuerberaters erhielt die Einspruchsentscheidung den Eingangsstempel vom 3.2.2022, einem Donnerstag. Erst am 3.3.2022 erhob der Steuerberater Klage. Diese wurde vom FG wegen der vermeintlichen Fristversäumnis als unzulässig verworfen. Die Klagefrist hätte am 31.1.2022 (einem Montag) begonnen, da die Einspruchsentscheidung an diesem Tag als bekannt gegeben galt, und hätte am 28.2.2022 geendet. Dies sieht der BFH anders uns erachtet die Klage als fristgerecht.
Die Begründung:
Es ergeben sich erhebliche Zweifel an dem typischen Geschehensablauf, dass die Einspruchsentscheidung den Empfänger innerhalb von drei Tagen nach Aufgabe zur Post erreicht hat. Denn der Kläger hat am Zugang der Einspruchsentscheidung innerhalb der Drei-Tages-Frist berechtigte Zweifel dargelegt. Im Gewerbegebiet, in dem das Büro des Prozessbevollmächtigten belegen ist, wurde die Post durch den Dienstleister des Finanzamts regelmäßig nur von Dienstag bis Freitag zugestellt. Allein die Post für die „Samstagszustellung“ wurde ausnahmsweise standardmäßig am darauffolgenden Montag zugestellt. Der Dienstleister konnte nicht sicherstellen, dass in der im Gewerbegebiet belegenen Adresse die am Freitag vom Kunden aufgegebene oder abgeholte Post mit einer 95-prozentiigen Wahrscheinlichkeit innerhalb von drei Tagen ausgeliefert wurde. Es lässt sich hier nicht ausschließen, dass die am Freitag vom Finanzamt zur Post gegebene Einspruchsentscheidung erst an einem späteren Tag als am darauffolgenden Montag dem Steuerberater zuging, da Samstag und Sonntag im Gewerbegebiet zustellfreie Tage waren und es sich auch bei dem Montag – dem letzten Tag der Frist – nicht um einen regulären Zustelltag handelte.
Denkanstoß:
Erst kürzlich hat der BFH entschieden, dass die Frist für die Zugangsvermutung auch dann gilt, wenn der vom Finanzamt beauftragte Postdienstleister an einem Werktag (samstags) gar keine Zustellungen vornimmt (BFH-Urteil vom 20.2.2025, VI R 18/22). Das Besprechungsurteil unterscheidet sich von diesem Urteil aber in einem entscheidenden Punkt. Im aktuellen Fall gab es nämlich nicht nur einen, sondern grundsätzlich sogar zwei zustellfreie Tage – und zudem war nicht nur der Samstag, sondern (prinzipiell) auch noch der Montag ein zustellfreier Tag.
Zusätzlich war die Bekanntgabevermutung übrigens dadurch entkräftet, dass die Einspruchsentscheidung mit einem Posteingangsstempel vom 3.2.2022 versehen war. Dr. Stephan Geserich, Richter im VI. Senat des BFH, weist in einer Kommentierung des Urteils für die „NWB-Nachrichten“ darauf hin, dass der BFH derartigen Eingangsvermerken in der Vergangenheit weniger Bedeutung beigemessen hat (vgl. BFH-Beschluss vom 30.11.2006, XI B 13/06). Dass er dies nun anders sehe, sei bemerkenswert (NWB EAAAK-03904).