Eine kleine Geschichte: Bruder und Schwester leben in bester Einigkeit. Auch finanziell geht es ihnen gut, denn sie haben von ihrer Tante jeweils eine halbe Million – damals noch zu DM-Zeiten im Jahr 1988 – geerbt (im Rahmen der gesetzlichen Erbfolge). Doch 15 Jahre nach dem Tod der Tante findet der Bruder ein Testament, das bislang als verschollen galt – und das ihn als Alleinerben aufweist und wonach die Schwester leer ausgehen sollte. Es kommt, was kommen muss: Bruder und Schwester streiten sich vor Gericht. Die Schwester wendet ein, die Tante sei damals nicht mehr testierfähig gewesen.
Doch das Klagen hilft nichts – die Schwester muss ihr Erbe an den Bruder herausrücken. Nun kommt aber der böse Fiskus daher: Die ursprüngliche Festsetzung der Erbschaftsteuer gegenüber dem Bruder müsse korrigiert werden – schließlich will die Schatzkammer des Finanzministers gefüllt werden. Der Bruder ist entsetzt. Ist denn nicht längst Festsetzungsverjährung eingetreten? Wieder einmal werden die Gerichte bemüht, und zwar bis zum BFH nach München.
Das BFH-Urteil vom 4.6.2025
Die obersten Steuerrichter pflichten dem Finanzminister bei: Die ursprüngliche Festsetzung der Erbschaftsteuer kann geändert werden. Festsetzungsverjährung tritt prinzipiell nicht ein, da hier die Anlaufhemmung greift (BFH-Urteil vom 4.6.2025, II R 28/22).
Die Festsetzungsfrist beginnt gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht vor Ablauf des Kalenderjahres zu laufen, in dem der Bruder Kenntnis von dem rechtsgültigen Erwerb erlangt hat. Dies war hier konkret der Erlass des Vorbescheids des Nachlassgerichts – das war im Urteilsfall das Jahr 2007.
Die Anlaufhemmung war nicht durch die Erteilung des ursprünglichen Erbscheins verbraucht, da dieser auf der gesetzlichen Erbfolge beruhte und nicht auf dem rechtsgültigen Erwerb aufgrund des Testaments der Erblasserin. Die Festsetzungsfrist begann somit mit Ablauf des Jahres 2007 und endete gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des Jahres 2011.
Auch waren die Voraussetzungen für eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO im Streitfall gegeben. Das aufgefundene Testament der Erblasserin, mit dem der Kläger zum Alleinerben bestimmt wurde, stellt eine nachträglich bekannt gewordene Tatsache dar, die zu einer höheren Erbschaftsteuer führt.
Denkanstoß:
Mit Urteil vom 27.4.2022 (II R 17/20) hat der BFH entschieden: Ein durch letztwillige Verfügung eingesetzter Erbe erlangt Kenntnis von dem Erwerb, wenn er zuverlässig erfahren und somit Gewissheit erlangt hat, dass der Erblasser ihn durch eine wirksame letztwillige Verfügung zum Erben eingesetzt hat. Dies ist in der Regel mit Eröffnung des Testaments der Fall. Wird durch gerichtliche Entscheidung die Wirksamkeit einer letztwilligen Verfügung festgestellt, hat spätestens mit diesem Zeitpunkt der darin ausgewiesene Erbe sichere Kenntnis von seiner Einsetzung. Ob die Gerichtsentscheidung mit Rechtsmitteln anfechtbar ist oder tatsächlich angefochten wird, ist für die Kenntnis i.S. des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO unerheblich. Mit der einmal erlangten Kenntnis ist die Wirkung des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO verbraucht und eine Verlängerung der Anlaufhemmung nicht mehr möglich.
In ähnlich gelagerten Fällen wie dem obigen sollte auch das BFH-Urteil vom 27.4.2022 beachtet werden, denn hier hatte der Kläger – anders als im aktuellen Fall – obsiegt. Der Steueranspruch war erloschen. Obwohl man geteilter Meinung über die Art und Weise des Sieges sein kann – es war sozusagen ein „schmutziger Sieg“. Denn der Kläger hat gewonnen, weil er seiner Anzeigepflicht nicht nachgekommen ist und zudem tatsächlich Festsetzungsverjährung eingetreten war.