Aufreger des Monats Juni 2025
Normalerweise stellt Christian Herold an dieser Stelle ein Urteil vor, das er zum „Aufreger des Monats“ ausgewählt hat. Als regelmäßiger und begeisterter Leser habe ich ihn auf das nachfolgende Urteil aufmerksam gemacht. Da ich selbst involviert war – warum dann auch nicht selbst dazu bloggen? Ich freue ich mich, nun selbst als Steuerpraktiker mit Schwerpunkt Abwehrberatung einen Fall zu präsentieren, der es in diese Liga geschafft hat.
Sachverhalt
Das Existenzminimum von steuerlich zu berücksichtigenden Kindern (§ 32 EStG) wird über den Kinderfreibetrag (§ 32 Abs. 6 EStG) freigestellt. Der Kinderfreibetrag ist für alle „Steuerkinder“ – egal ob Säugling, Teenager, 25-jähriger Student oder 50-jährige, für die deren Eltern die aufgrund einer Behinderung ihres Kindes noch Anspruch auf den Kinderfreibetrag haben, identisch. Die Höhe des Kinderfreibetrages wird aus dem gewichteten Durchschnitt der Existenzminima von Kindern zwischen 0 und 18 Jahren gebildet, wie es im jeweiligen Existenzminimumbericht der Bundesregierung berechnet wird. Anders als im Steuerrecht werden Sozialleistungen an Kinder bei Bedürftigkeit entsprechend der jeweiligen Alterskohorte gezahlt. Streitig war im Urteilsfall des BFH v. 23.1.2025 – III R 33/24, ob die Höhe des Kinderfreibetrages für größere Kinder – deren von der Bundesregierung festgestelltes Existenzminimum höher als der aus dem Durchschnitt berechnete Kinderfreibetrag ist – verfassungsgemäß ist. Zur Streitfrage siehe auch Vorlagebeschluss des FG Niedersachsen, Aussetzungs- und Vorlagebeschluss vom 02.12.2016 – 7 K 83/16.
Entscheidung
Der BFH hat mit Urteil v. 23.01.2025 – III R 33/24 keine dahingehende Verfassungswidrigkeit erkannt. Der BFH führt aus:
„Soweit der Kläger beanstandet, die fehlende Staffelung des Kinderfreibetrags nach Altersgruppen führe dazu, dass das steuerlich freigestellte Existenzminimum seines älteren Kindes hinter dem sozialhilferechtlichen Regelbedarf (in Höhe von 295 € monatlich) zurückbleibe, berücksichtigt er nicht, dass dies eine Folge der Durchschnittsberechnung des Bedarfs des Kindes über 18 Lebensjahre hinweg ist. Die Durchschnittsberechnung führt auch dazu, dass in den ersten Lebensjahren des Kindes ein über dem sozialhilferechtlichen Regelbedarf liegender Betrag des Einkommens von der Besteuerung freigestellt wird.“
Einschätzung
Die Rechtfertigung des BFH, dass die steuerliche Freistellung des Existenzminimums größerer Kinder deswegen nicht notwendig sei, weil für jüngere Kinder gesetzlich zu viel Kinderfreibetrag freigestellt wurde, negiert die ansonsten hochheiligen Grundsätze der Abschnittsbesteuerung – ohne dass hierfür eine Rechtsfertigung ersichtlich wäre. Ungeachtet dieser komplett unsystematischen Begründung ist es auch praktisch falsch. Zwar ist jedes „ältere Kind“ auch einmal ein „jüngeres Kind“ gewesen, aber nicht bei jedem dieser Kinder, bei denen sich im älteren Alter der Kinderfreibetrag auswirkt, weil dessen Steuerfreistellung die Höhe des Kindergeldes übersteigt, war dies im jüngeren Alter ebenso. Und dies ist eher die Regel als die Ausnahme: Wenn Kinder „jünger“ sind, sind es deren Eltern auch, deren Einkommen ist dann (ggf. durch Erziehungszeiten, regelmäßig aber durch die noch am Anfang stehende berufliche Entwicklung) i.d.R. geringer als in späteren Jahren mit „älteren Kindern“. In dieser – typischen – Konstellation verpufft der Steuervorteil aus einem zu hohen Kinderfreibetrag bei jüngeren Kindern, während der Steuernachteil bei älteren Kindern sich auswirkt. Wenn der BFH von einem Ausgleich ausgeht, legt er einen atypischen Lebenssachverhalt zugrunde.
Warum ist das Urteil für mich der Topkandidat für den „Aufreger des Monats“?
Der BFH bestätigt eine Besteuerungsregel, bei der das Existenzminimum von älteren Kindern nicht in der Höhe freigestellt wird, in der der Staat solchen Kindern bei Bedürftigkeit Sozialleistungen gewähren würde. Die Rechtfertigungsgründe verstoßen deutlich gegen das Prinzip der Abschnittsbesteuerung und leider auch gegen die Lebensrealität. Da die Preisvergabe in der Kategorie „Aufreger des Monats“ dem geschätzten Kollegen Christian Herold vorbehalten ist, habe ich das BFH-Urteil auf die Vorschlagsliste gesetzt – und freue mich, dass es diesen „Preis“ erhalten hat.
Und wie geht’s weiter?
Auch Kinder, die schon größer sind, werden älter und irgendwann volljährig. Wenn sie sich dann nicht von eigener Erwerbstätigkeit ernähren, bleiben Eltern zum Unterhalt gesetzlich verpflichtet und können das Existenzminium dieser volljährigen Kinder von der eigenen Steuerbemessungsgrundlage abziehen. Für die Höhe des Abzugs gibt es jedoch einen kleinen, aber feinen Unterschied:
Wenn das Kind „nichts“ macht (umgangssprachlich: faulenzt) können die Eltern für das Kind außergewöhnliche Belastungen in Höhe des Grundfreibetrages abziehen (§ 33a Abs. 1 EStG, im Jahr 2025 € 12.096).
Sollte das Kind sich jedoch um seine Ausbildung kümmern oder sogar studieren (und noch keine 25 Jahre alt sein), ist das nicht möglich (§ 33a Abs. 1 S. 4 EStG), dann können die Eltern nur den geringeren Kinderfreibetrag von insgesamt € 9.600 geltend machen, da nach der Wertung des Gesetzgebers ein studierendes Kind ein um € 2.496 geringes Existenzminimum in Jahr (€ 208/ Monat) als ein faulenzendes Kind hat. Das erscheint nur dann nachvollziehbar, wenn man davon ausgeht, dass ein fleißig lernendes Kind gar keine Zeit zum Essen hat.
Das letzte Wort wird in dieser Sache noch nicht geschrieben sein. Der BFH wird sich zu gegebener Zeit noch einmal Gedanken machen müssen, ob auch für diese volljährigen Kinder die Durchschnittsbetrachtung der Alterskohorten 0 – 18 der richtige Maßstab sein kann. Bis dahin stehen (derzeit) alle Einkommensteuerbescheide unter der Vorläufigkeit (§ 165 AO) – übrigens schon seit 2001.
Ein Beitrag von:
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- Steuerberater und Geschäftsführer der Roser GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Steuerberatungsgesellschaft in Leipzig
- regelmäßige Dozententätigkeit und Autor von Fachbeiträgen
- Lehrbeauftragter an der Hochschule Anhalt
Warum blogge ich hier?
Als Steuerpraktiker mit einem Schwerpunkt für die Abwehrberatung – auch vor Finanzgerichten und BFH – sehe ich die Auswirkungen unverständlicher Steuergesetze und deren zunehmende Komplexität und praktische Unanwendbarkeit für die betroffenen Steuerpflichtigen (und häufig auch deren Berater). Frei nach Marx (bisher haben die Steuerberater das Steuergesetz nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, es zu verändern) möchte ich versuchen einen kleinen Teil dazu beizutragen, das Steuerrecht verständlicher und einfacher zu machen. Auch wenn die Chance für dieses Vorhaben überschaubar ist – wer aufgibt hat schon verloren. Ich freue mich auf fachlichen Austausch!
Eine Antwort
Zum Aufreger des Monats reicht dieses Urteil m.E. nach nur, wenn wirklich so gar nichts anderes vorgefallen ist. Die Typisierung und Vereinheitlichung des Gesetzgebers für den Freibetrag ist eine sinnvolle Maßnahme, die sich in aller Regel auch über die Jahre ausgleicht. Die Sicht des BFH ist hier durchaus plausibel. Der Kläger hat mit der Abschnittsbesteuerung zwar einen Punkt, aber so dogmatisch sind wir im Steuerrecht ja schon lange nicht mehr. Leider, muss man manchmal sagen.