Prudence Principle – Jetzt auch ein Vorsichtsprinzip in den IFRS?

Den International Financial Reporting Standards (IFRS) soll das Framework (Rahmenkonzept) als theoretische Basis zugrunde liegen. Das Framework ist zwar selbst kein direkt anzuwendender Standard, soll jedoch für den IASB die theoretische Basis im Standardisierungsprozess bilden und dient für die Anwender als Auslegungsinstrument bei Vorliegen von Regelungslücken. Bei einer früheren Überarbeitung des Frameworks (2010) war das Prudence Principle eliminiert worden. Mit der Veröffentlichung des nunmehr überarbeiteten Frameworks im März 2018 wurde das Prudence Principle wieder aufgenommen. Kann man das als Einzug eines Vorsichtsprinzips im deutschen Sinne in die IFRS verstehen?

Das Prudence Principle plump mit Vorsichtsprinzip zu übersetzen, ginge an der Sache vorbei. Zwar steht Prudence auch für Vorsicht, jedoch beispielsweise auch für Besonnenheit, Sorgfalt oder Umsichtigkeit. Damit stellt sich die Frage, ob damit ein Vorsichtsprinzip im deutschen Sinne zu verstehen sein soll. Danach soll der Kaufman sich im Zweifel lieber ärmer rechnen als zu reich. Auch in Deutschland sind wir aber in den letzten Jahrzehnten davon abgerückt, das Vorsichtsprinzip als Rechtfertigung für mehr oder weniger willkürlich Unterbewertungen heranzuziehen. Nur da wo Unsicherheit besteht, sollte nach dem handelsrechtlichen Vorsichtsprinzip eher eine tendenziell etwas pessimistischere Bilanzierung Berücksichtigung finden. Alles andere ist bilanzdogmatische Steinzeit.

Wie ist hier aber das Prudence Principle im überabeiteten Framework der IFRS einzuordnen? Zunächst einmal ganz weit unten. Denn darüber steht der Grundsatz der Faithful Representation, d.h. der wirklichkeitsgetreuen Darstellung der Lage des Unternehmens (Framework (2018) Paragraphen 2.12 ff.). Die deutsche Übersetzung mit „glaubwürdiger Darstellung“ verstellt den Blick auf den Inhalt. Faithful Representation wird durch 3 Untergrundsätze ausgefüllt: Vollständigkeit, Neutralität und Fehlerfreiheit.

Unter Neutralität wird dabei verstanden, dass die Darstellung frei von verzerrenden Einflüssen bei der Auswahl oder Darstellung von Finanzinformationen ist. Dazu darf die Darstellung nicht so gestaltet sein, dass sie die Adressaten in eine Richtung beeinflusst. Die Informationen dürfen nicht so beeinflusst bzw. manipuliert sein, dass die Adressaten sie entgegen der tatsächlichen Lage als besonders vorteilhaft oder nachteilig einordnen. Nur so kann die zentrale Aufgabe der Berichterstattung erfüllt werden, den Adressaten Informationen im Sinne entscheidungsrelevanten Wissens zu vermitteln.

Der Grundsatz der Neutralität wird unterstützt durch das Prudence Principle, d.h. das Prudence Principle steht in einer Mittel-Zweck-Beziehung zum übergeordneten Grundsatz der Neutralität. Wie ist aber der Grundsatz der Vorsicht dabei zu verstehen? Soll er zu einer eher pessimistischeren Abbildung führen wie etwa nach HGB? Das Framework verweist zur Ausfüllung des Grundsatzes auf eine vorsichtige Handhabung. Vermögenswerte und Erträge sollen nicht überbewertet und Verbindlichkeiten und Aufwendungen nicht unterbewertet werden. Das klingt tatsächlich ein wenig nach deutschem Vorsichtsprinzip. Aber man darf hier nicht aufhören zu lesen.

Ebenso wenig erlaubt wie eine positive Überzeichnung der Lage ist explizit die Unterbewertung von Vermögenswerten oder Einkommen oder die Überbewertung von Verbindlichkeiten oder Aufwendungen durch Ausübung der Vorsicht. Hierdurch würden nicht nur Fehldarstellungen in der aktuellen Periode, sondern auch in zukünftigen Perioden verursacht werden, weil etwa bei Realisation der Werte Aufwendungen und Erträge unzutreffend abgebildet werden.

Im Framework wird betont, das Prudence Principle sei nicht im Sinne einer asymmetrischen Darstellung zu verstehen. Beispielsweise dürfen keine höheren Anforderung für die Abbildung von Vermögenswerten und Erträge gelten als für die Abbildung von Schulden und Aufwendungen. Eine solche Asymmetrie, in handelsrechtlicher Terminologie imparitätische Bilanzierung, ist nach den Vorgaben des Frameworks gerade kein qualitatives Merkmal nützlicher Finanzinformationen. Dabei bleibt vorbehalten, dass der IASB in einzelnen IFRS asymmetrische Anforderungen formuliert, wenn dies aus seiner Sicht zu den relevantesten Informationen führt.

Die Wiedereinführung des Prudence Principles soll im Ergebnis also nicht einen Grundsatz im Sinne des deutschen Vorsichtsprinzips in den IFRS implementieren. Zieht man die Erwägungsgründe des IASB heran, zeigt sich die Absicht, den Grundsatz wieder ins Framework aufzunehmen gerade um Missinterpretationen zu vermeiden. Damit soll einerseits die Motivation für Bilanzierer eingegrenzt werden, im Einzelfall eine zu optimistische Darstellung anzustreben. Andererseits soll keinesfalls die Grundlage für eine asymmetrische (imparitätische) Bilanzierung durch die Unternehmen geschaffen, ja sogar verhindert werden, solange eine solche nicht im Einzelfall von den IFRS vorgegeben wird (Framework (2018) Paragraphen BC2.37 ff.).

Unter den Definitionen werden die Ausführungen des Framworks zum Prudence Principle dann zusammengefasst: „The exercise of caution when making judgements under conditions of uncertainty. The exercise of prudence means that assets and income are not overstated and liabilities and expenses are not understated. Equally, the exercise of prudence does not allow for the understatement of assets or income or the overstatement of liabilities or expenses.“

Ziel ist eine neutrale Darstellung, keine im deutschen Sinne einseitig verzerrte.

Weitere Informationen:

Projektseite des IASB zum Framework auf www.ifrs.org

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