Schriftformerfordernis? Gerichte dürfen Tatbestandsmerkmale nicht erfinden

Deutschland ist – oder war einmal – ein Volk von Erfindern. Leider beschränkt(e) sich das Erfinden nicht auf den Bereich der Naturwissenschaften. Nein, auch Steuer- und Sozialrechtler woll(t)en da nicht hintenanstehen und so sind in den vergangenen Jahren im Bereich des Steuerrechts und des Beitragsrecht zunehmend Tatbestandsmerkmale erfunden worden, die es im Gesetz gar nicht gibt.

Ich selbst hatte darauf schon mehrfach hingewiesen (siehe z.B. „IAB auch ohne Fahrtenbuch – erneute Schlappe für die Finanzverwaltung„). Sehr inspirierend sind dazu aber vor allem die Beiträge von Ernst Büchele in diesem Blog, beispielsweise „Vorrang der verdeckten Gewinnausschüttung gegenüber der objektiv richtigen Bilanz?

Nun hat glücklicherweise auch das Bundesverfassungsgericht den erfundenen Tatbestandsmerkmalen im Steuerrecht eine deutliche Absage erteilt. Mit eigenen Worten ausgedrückt lautet dessen Urteil: Der unterbliebene Abschluss eines schriftlichen Vertrages allein darf nicht dazu führen, dass einem Vertragsverhältnis zwischen nahestehenden Personen oder Gesellschaften die steuerliche Anerkennung verweigert wird (BVerfG-Urteil vom 27.5.2025, 2 BvR 172/24).

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Es ging um Vereinbarungen zwischen Schwester-Personengesellschaften. Das Finanzamt wollte einen Werkvertrag zwischen den beiden Gesellschaften nicht anerkennen und versagte den Abzug von Betriebsausgaben. Es begründete dies damit, dass keine schriftlichen Verträge vorliegen würden, die die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien geregelt hätten. Das Finanzgericht gab dem Finanzamt Recht. Da keine schriftlichen Verträge vorgelegen hätten, komme es auf die Frage der tatsächlichen Durchführung des Werkvertrages nicht mehr an. Die Revision wurde nicht zugelassen und der BFH wies die entsprechende Nichtzulassungsbeschwerde zurück (FG Thüringen, Urteil vom 30.3.2022, 1 K 68/17; BFH-Beschluss vom 8.3.2023, IV B 35/22). Doch die Klägerin gab nicht auf und legte Verfassungsbeschwerde ein. Die Karlsruher Richter sehen diese als zulässig und auch als begründet an.

Deutliche Worte aus Karlsruhe

Die Entscheidung des Finanzgerichts sei unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar! Das sitzt. Von Bedeutung ist dann aber folgende Aussage: Das Finanzgericht habe im Rahmen des anzustellenden Fremdvergleichs die Einhaltung der Schriftform zu einem Tatbestandsmerkmal des § 4 Abs. 4 EStG verselbständigt, was in schlechterdings unhaltbarer Weise der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts widerspricht.

Denkanstoß:

Es wird sich zeigen, welche Auswirkungen der Richterspruch aus Karlsruhe über den entschiedenen Fall hinaus haben wird. Jedenfalls werden es sich die Finanzverwaltung und auch die Finanzgerichte nicht mehr leicht machen können. Vor allem müssen Beweisanträge und die tatsächliche Durchführung eines Vertrages gewürdigt werden. Das bedeutet natürlich nicht, dass ab sofort auch jede rein mündliche Vereinbarung anzuerkennen ist. Zum einen gibt es in bestimmten Fällen die gesetzliche Vorgabe der Schriftform. Und zum anderen bleibt es dabei, dass Steuerpflichtige die Beweislast für steuermindernde Tatsachen haben. Also Obacht!

Übrigens, nur am Rande: Dies ist auch für den BFH in wenigen Monaten die dritte Schlappe, die er vom Bundesverfassungsgericht kassieren musste – und zwar im weitesten Sinne jeweils verfahrensrechtlich (vgl. BVerfG-Beschluss vom 23.06.2025, 1 BvR 1718/24; BVerfG-Beschluss vom 21.2.2025, 1 BvR 2267/23). Der BFH wird wohl seine Praxis des effektiven Rechtsschutzes, der jedem Steuerbürger zusteht, hinterfragen müssen.

Ein Beitrag von:

  • Christian Herold

    • Steuerberater in Herten/Westf. (www.herold-steuerrat.de)
    • Autor zahlreicher Fachbeiträge
    • Mitglied im Steuerrechtsausschuss des Steuerberaterverbandes Westfalen-Lippe

    Warum blogge ich hier?
    Als verantwortlicher Redakteur und Programmleiter zahlreicher Steuerfachzeitschriften, meiner früheren Tätigkeit in der Finanzverwaltung und meiner über 25-jährigen Arbeit als Steuerberater lerne ich das Steuerrecht sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht kennen. Es reizt mich, die Erfahrungen, die sich aus dieser Kombination ergeben, mit den Nutzern des Blogs zu teilen und freue mich auf viele Rückmeldungen.

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