Kehrtwende bei Aufbewahrungsfristen: Wenn Bürokratieabbau zur Bürokratiezunahme wird

Der steuerliche Zickzack-Kurs

Was für ein bemerkenswertes Déjà-vu: Kaum hatte das Vierte Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelege von zehn auf acht Jahre verkürzt und der deutschen Wirtschaft eine jährliche deutliche Entlastung versprochen, vollzieht der Gesetzgeber bereits die nächste Kehrtwende. Mit dem am 6. August 2025 vom Kabinett beschlossenen Gesetz zur Modernisierung und Digitalisierung der Schwarzarbeitsbekämpfung (SchwarzArbMoDiG) werden Banken, Versicherungen und Wertpapierinstitute wieder zur zehnjährigen Aufbewahrung ihrer Buchungsbelege verpflichtet (weitere Infos/bundesregierung.de)

Nur wenige Monate nach der großspurig verkündeten „Befreiung“ von bürokratischen Fesseln erleben wir nun eine selektive Rückkehr zu den alten Regeln: zumindest für einen ausgewählten Kreis von Marktteilnehmern. Diese legislative Volte ist symptomatisch für eine Rechtspolitik, die zwischen populären Entlastungsversprechen und fiskalpolitischen Realitäten gefangen ist.

Die neue Rechtslage im Detail

Die Neuregelung betrifft die §§ 19a EGAO, 147 Abs. 3 AO und 257 Abs. 4 HGB und sieht vor, dass ausschließlich Banken, Versicherungen und Wertpapierinstitute ihre Buchungsbelege wieder zehn Jahre aufbewahren müssen. Für alle anderen Unternehmen bleibt es bei der achtjährigen Frist.

Bundesfinanzminister Lars Klingbeil rechtfertigt diese Maßnahme mit der Notwendigkeit, „Fälle groß angelegter Steuerhinterziehung wie bei Cum/Cum- und Cum/Ex-Geschäften konsequent verfolgen“ zu können (weitere Infos: Pressemitteilung BMF)

Die Begründung klingt plausibel, wirft aber grundsätzliche Fragen auf: Wenn längere Aufbewahrungsfristen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung so wichtig sind: warum dann nur für bestimmte Branchen?

Gesetzgebungschaos durch permanente Novellierung

Ein gravierendes Problem liegt in der rechtssystematischen Dimension: Binnen kürzester Zeit werden nun zum wiederholten Mal das Einführungsgesetz zur Abgabenordnung (EGAO), die Abgabenordnung (AO) und das Handelsgesetzbuch (HGB) geändert. Diese permanenten Novellierungen hätten vollständig vermieden werden können, wenn der Gesetzgeber bereits bei der ersten Reform eine durchdachte, differenzierte Lösung entwickelt hätte.

Die Übersichtlichkeit des Rechts leidet massiv unter diesem legislativen Ping-Pong-Spiel. Während Rechtsanwender noch dabei sind, die Änderungen des BEG IV zu implementieren, müssen sie bereits die nächsten Anpassungen vornehmen. Besonders problematisch: Die verschiedenen Aufbewahrungsfristen gelten nun parallel für unterschiedliche Branchen – ein Zustand, der auch in der (Kommentar-)Literatur zu erheblichen Verwirrungen führt.

Beispiel aus der Praxis: Ein Steuerberater, der sowohl mittelständische Industrieunternehmen (8 Jahre) als auch Banken (10 Jahre) betreut, muss nun zwei verschiedene Beratungsstandards anwenden. Die Fehleranfälligkeit steigt exponentiell, wenn bei der Mandatsübernahme zunächst die Branchenzugehörigkeit geklärt werden muss, bevor überhaupt eine Aussage zu den geltenden Aufbewahrungsfristen möglich ist.

Folgen für die Praxis

Rechtsunsicherheit durch Zwei-Klassen-System

Das entstehende Zwei-Klassen-System schafft Rechtsunsicherheit. Gemischte Unternehmen, die sowohl Bank- als auch andere Geschäfte betreiben, stehen vor der Frage, welche Aufbewahrungsfristen für welche Geschäftsbereiche gelten. Die unterschiedlichen Fristen erschweren zudem unter Umständen konzerninterne Vereinheitlichungen und internationale Compliance-Strategien.

IT-technische Herausforderungen

Entgegen der Behauptung des Finanzministeriums ist der Erfüllungsaufwand keineswegs vernachlässigbar. IT-Systeme müssen angepasst, Speicherkapazitäten erweitert und Löschkonzepte überarbeitet werden. Dies erweist sich als zusätzliche Belastung.

Grundsätzliche Überlegungen zur Aufbewahrungspolitik

Verhältnismäßigkeitsfrage

Die aktuelle Entwicklung offenbart ein Grundproblem: Der Gesetzgeber agiert reaktiv und selektiv, statt eine kohärente, verhältnismäßige Aufbewahrungspolitik zu entwickeln. Statt pauschaler Fristen für alle oder willkürlicher Branchenlösungen wäre eine risikobasierte Differenzierung denkbar: beispielsweise längere Fristen für komplexe, grenzüberschreitende Geschäfte unabhängig von der Branche.

Internationale Perspektive

Ein Blick ins Ausland zeigt alternative Ansätze: Während Deutschland zwischen acht und zehn Jahren pendelt, setzen andere EU-Staaten auf flexible, sachverhaltsbezogene Regelungen. Die französische Lösung mit differenzierten Fristen je nach Geschäftsart könnte als Vorbild dienen.

Fazit und Ausblick

Gesetzgeberische Inkonsistenz

Der Aufbewahrungsfristen-Pingpongball zwischen acht und zehn Jahren offenbart eine fundamentale Schwäche der aktuellen Rechtspolitik: Das Fehlen einer konsistenten, langfristig angelegten Strategie. Statt systematischer Reformen erleben wir symptombezogene Flickschusterei.

Empfehlungen für eine kohärente Politik

Eine moderne Aufbewahrungspolitik sollte folgende Prinzipien befolgen:

  1. Einheitlichkeit: Gleiche Fristen für gleiche Risiken, unabhängig von der Branche
  2. Flexibilität: Längere Fristen nur bei nachgewiesenen Missbrauchsrisiken
  3. Technologieneutralität: Keine Privilegierung digitaler gegenüber physischer Archivierung
  4. Verhältnismäßigkeit: Abwägung zwischen Vollzugsinteressen und Belastung der Wirtschaft

Der Weg nach vorn

Statt weiterer Ad-hoc-Korrekturen brauchen wir eine Grundsatzdiskussion über Sinn und Zweck steuerlicher Aufbewahrungspflichten im digitalen Zeitalter. Die aktuelle Gesetzgebung zeigt: Wer keine klare Linie hat, wird zum Spielball tagespolitischer Stimmungen: zu Lasten der Rechtssicherheit und der betroffenen Unternehmen.

Die Kehrtwende bei den Aufbewahrungsfristen ist mehr als nur eine technische Korrektur: sie ist das Eingeständnis einer gescheiterten Bürokratieabbau-Politik. Zeit für einen Neuanfang.


Dieser Beitrag knüpft an die Analyse „Bürokratieabbau um jeden Preis? Warum die neuen Aufbewahrungsfristen ein riskanter Deal sind“ an und zeigt auf, wie aus vermeintlicher Entlastung neue Belastung wird.

Ein Beitrag von:

  • Prof. Dr. iur. Christoph Schmidt

    • Professor an der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg
    • Leiter des Instituts für digitale Transformation im Steuerrecht

    Warum blogge ich hier?
    Ich blogge bereits bei tax&bytes. Oft ergeben sich aber Themen, die einen starken inhaltlichen Bezug haben. Für diese Themen eignet sich der NWB Experten-Blog.

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