Geschlechtsspezifische Sterbetafeln zulässig? Karlsruhe muss entscheiden

Der BFH hat vor einigen Monaten geurteilt, dass die Verwendung von geschlechtsspezifischen Sterbetafeln bei der Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer nicht gegen das verfassungsrechtliche Diskriminierungsverbot aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG verstößt. (BFH-Urteile vom 20.11.2024, II R 38/22, II R 41/22 und II R 42/22). Doch damit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn es wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt. Die Az. beim BVerfG lauten 1 BvR 880/25, 1 BvR 881/25, 1 BvR 882/25.

Hintergrund:

Die voraussichtliche – durchschnittliche – Lebenserwartung des Steuerpflichtigen kann steuerlich in bestimmten Fällen von großer Relevanz sein, das heißt, sie kann die Höhe der Erbschaft- oder Schenkungsteuer enorm beeinflussen. So greift die Finanzverwaltung bei der Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen auf so genannte Sterbetafeln des Statistischen Bundesamts zurück. Hieraus wiederum ergeben sich Vervielfältiger, die das BMF jeweils veröffentlicht. Die Werte werden nach Männern und Frauen getrennt ermittelt, da Frauen – durchschnittlich betrachtet – länger leben als Männer.

Der zugrunde liegende Sachverhalt:

Der Vater schenkte seinen Kindern im Rahmen der vorweggenommenen Erbfolge Anteile an einer GmbH. Er behielt sich aber den lebenslangen unentgeltlichen Nießbrauch an den übertragenen Anteilen vor. Bei der Festsetzung der Schenkungsteuer gegenüber den Kindern zog das Finanzamt von dem Wert der Anteile den Kapitalwert des Nießbrauchsrechts des Vaters ab, da der Nießbrauch die Bereicherung der Kinder und die Bemessungsgrundlage für die Schenkungsteuer minderte. Den Kapitalwert ermittelte es durch Multiplikation des Jahreswerts des Nießbrauchs mit einem Vervielfältiger, der der amtlichen Sterbetafel zu entnehmen war. Die Kinder machten geltend, dass die Ermittlung des Kapitalwerts lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen anhand unter-schiedlicher Vervielfältiger für Männer und Frauen gegen Art. 3 Abs. 3 GG verstoße. Doch dem sind die Richter nicht gefolgt.

Die Entscheidung(en) des BFH:

Die Heranziehung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln sei verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Da die statistische Lebenserwartung von Männern und Frauen unterschiedlich hoch sei, ermögliche die Verwendung der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Vervielfältiger genauere und realitätsgerechtere Bewertungsergebnisse als die Verwendung geschlechtsneutraler Vervielfältiger. Die Anwendung der geschlechtsspezifischen Sterbetafeln könne sich für den Steuerpflichtigen je nach Fallkonstellation günstiger oder ungünstiger auswirken und führe nicht in jedem Falle zu einer Benachteiligung aufgrund des Geschlechts.

Denkanstoß:

Die Entscheidungen des BFH ergingen zur Rechtslage im Jahr 2014. Der BFH hatte nicht darüber zu entscheiden, welche Auswirkungen sich aus dem am 1.11.2024 in Kraft getretenen Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag für die Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen ergeben – darauf weist der BFH explizit hin. Möglicherweise werden die Karlsruher Richter auch hierzu Stellung beziehen. Betroffene sollten ihre Steuerfestsetzungen jedenfalls offenhalten, bis das BVerfG entschieden hat.

Unabhängig davon gilt auch hier, was ich im Rahmen des NWB Experten-Blogs schon häufiger bemängelt habe: Einmal entscheidet der BFH nach wirtschaftlichen Maßstäben und ein anderes Mal nach bürgerlich-rechtlichen Vorgaben. Im Fall der Anwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln hat sich der BFH für die wirtschaftliche Sichtweise entschieden. Bei dem kürzlich vorgestellten Urteil zu (Apotheken-)Zahlstellen hingegen hat er eine streng bürgerlich-rechtliche Haltung eingenommen (vgl. Blog-Beitrag „Umsatzsteuer entsteht trotz Insolvenz der Zahlstelle!„). Eine klare Linie ist für mich jedenfalls nicht zu erkennen.

Ein Beitrag von:

  • Christian Herold

    • Steuerberater in Herten/Westf. (www.herold-steuerrat.de)
    • Autor zahlreicher Fachbeiträge
    • Mitglied im Steuerrechtsausschuss des Steuerberaterverbandes Westfalen-Lippe

    Warum blogge ich hier?
    Als verantwortlicher Redakteur und Programmleiter zahlreicher Steuerfachzeitschriften, meiner früheren Tätigkeit in der Finanzverwaltung und meiner über 25-jährigen Arbeit als Steuerberater lerne ich das Steuerrecht sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht kennen. Es reizt mich, die Erfahrungen, die sich aus dieser Kombination ergeben, mit den Nutzern des Blogs zu teilen und freue mich auf viele Rückmeldungen.

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