Vorläufigkeitsvermerk Rentenbesteuerung – Neuere Entwicklungen

Das BVerfG hatte mit Beschlüssen vom 07.11.2023 zwei Verfassungsbeschwerden zum Alterseinkünftegesetz mangels substantiierten Vortrags als unzulässig zurückgewiesen (BVerfG 2 BvR 1143/21 und 2 BvR 1140/21). Die Beschwerdeführer hatten sich nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob es für die Frage einer möglichen Doppelbesteuerung nicht auf eine individuelle, sondern auf eine strukturelle Betrachtungsweise ankomme. Bei struktureller Richtigkeit der typisierten Besteuerungsanteile wären dann wohl Doppelbesteuerungen im Einzelfall hinzunehmen.

Aufgrund dieser neueren Rechtsprechung holte die Finanzverwaltung zwei Gutachten ein, die die strukturelle Richtigkeit des AltEinkG bestätigten, da der Gesetzgeber einen großen Typisierungsspielraum habe, der nicht überschritten wurde. Er habe die „richtige Mitte“ zwischen Über- und Unterbesteuerungen gefunden; eine „eurogenaue“ Einzelfallgerechtigkeit sei nicht geboten*.

Die Finanzverwaltung änderte daraufhin ihre Auffassung und hielt die Unsicherheit hinsichtlich der Besteuerung von Leibrenten für beseitigt (BMF-Schreiben vom 10.03.2025). Der Vorläufigkeitsvermerk gem. § 165 AO wird in neue Steuerbescheide nicht mehr aufgenommen; für die Bescheide, in denen er noch enthalten war, läuft er zwei Jahre nach Beseitigung der Unsicherheit ab (§ 171 Abs. 8 AO).

Um ein „Auslaufen“ des Vorläufigkeitsvermerks zu verhindern, mussten Steuerpflichtige zur Wahrung des Rechtsschutzinteresses beantragen, ihre Steuerbescheide für endgültig zu erklären, um dieses dann per Einspruch anzugreifen.

Drei Anträge auf Endgültigkeitserklärung – und drei unterschiedliche Reaktionen

Antrag A: Finanzamt S gab dem Antrag statt. Der Steuerpflichtige hat inzwischen Einspruch eingelegt.

Antrag B: Finanzamt G, aus einem anderen Bundesland, teilte mit, dass „nach gründlicher Prüfung“ der Einkommensteuerbescheid 2023 noch nicht endgültig gesetzt werden kann, und somit die teilweise Vorläufigkeit nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO bestehen bleibt.

Das ist allerdings einmal eine pragmatische und unbürokratische, also bürgerfreundliche, Entscheidung! Interessanterweise steht sie im Widerspruch zum BMF-Schreiben vom 10.03.2025. Das Finanzamt G erklärt, zwar nicht explizit, aber doch unmissverständlich, dass die Unsicherheit fortbesteht!

Leibrentner werden sich in etwaigen späteren Rechtsstreiten auf den Standpunkt stellen können, dass es zumindest zweifelhaft ist, ob die Unsicherheit weggefallen ist.

Antrag C: Finanzamt M, wiederum in einem anderen Bundesland, verlangt vom Steuerpflichtigen die Darlegung, dass er, selbst bei günstigem Ausgang der noch anhängigen Verfahren (X R 18/23 und X R 9/24) davon profitieren würde.

Das ist formaljuristisch korrekt, allerdings m.E. wohl unzumutbar. Dem Bürger wird auferlegt, einen irrsinnigen Aufwand zu betreiben, nämlich die Berechnungen über viele zurückliegende Jahrzehnte, für die teilweise keine Unterlagen mehr vorliegen, durchzuführen, ohne zu wissen, welche Berechnungsmethode der BFH letztlich für zutreffend halten wird. So fördert man Staatsverdrossenheit.

Im Sinne effektiven Rechtsschutzes sollte der Vorläufigkeitsvermerk so ausgelegt werden, dass er sich auf die Frage nach der Methode zur Feststellung einer Doppelbesteuerung bezieht, wie es wohl das Finanzamt G getan hat.

Fazit

M.E. ist es wohl das Sinnvollste, jetzt zunächst nichts weiter zu unternehmen, sondern sich gegebenenfalls später auf den Standpunkt zu stellen, die Unsicherheit sei – auch nach den Beschlüssen des BVerfG vom 07.11.2023 und den daraufhin erstellten Gutachten – nicht beseitigt.

In der Sache ist das m.E. zutreffend: Die Unsicherheit ist aufgrund der beim BFH noch anhängigen Verfahren tatsächlich nicht beseitigt. Diese Verfahren haben (auch) strukturelle Aspekte zum Gegenstand. Die Vorläufigkeitsvermerke haben deshalb weiterhin unbeschränkte Gültigkeit.

Zusatzinformation

Auch die „neue“ Rechtslage (strukturelle statt individueller Betrachtungsweise) ist bereits wieder Gegenstand eines finanzgerichtlichen Verfahrens (Hessisches Finanzgericht, 11 K 286/22).

Im zweiten Rechtsgang stützt sich die Klägerin nun nicht mehr nur auf das Vorliegen einer individuellen Doppelbesteuerung, sondern schließt sich der Auffassung der Finanzverwaltung an, dass es auf eine strukturelle Sichtweise ankommt. Aufgrund von Typisierungsfehlern seien die Besteuerungsanteile aber zu hoch.

Im Einzelnen geht es dabei um den Versorgungsfreibetrag für Versorgungsempfänger (sh. hierzu meinen Experten-Blog Beitrag vom 20.02.2024 „Zur (Nicht-)Berechtigung des Versorgungsfreibetrages“ – um die gleichrangige oder vorrangige Berücksichtigung von Krankenversicherungsbeiträgen in den Sonderausgaben-Höchstbeträgen und um die Einbeziehung sämtlicher Rentenarten in die typisierten Besteuerungsanteile, obwohl die Typisierung nur für Altersrenten vorgenommen wurde.

Man darf gespannt sein!

Weitere Informationen

* Kirchhof: Das grundgesetzliche Verbot der doppelten Besteuerung und der Entscheidungsraum des Gesetzgebers, Augsburg, September 2024; und Kube, Verfassungsgemäße Ausgestaltung des Übergangs zur nachgelagerten Rentenbesteuerung, Heidelberg, September 2024.

 

Ein Beitrag von:

  • Torsten Ermel

    • Steuerberater
    • Wirtschaftsprüfer

    Warum blogge ich hier?
    Das Thema Doppelbesteuerung der Renten – worauf ich meinen Schwerpunkt hier setzen werde – wirft jede Menge Fragen auf. Genau hierauf will ich hier im Blog eingehen. Diskussionsstoff ist reichlich vorhanden. Kommentieren Sie daher gerne meine Beiträge.

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