Auch Kindererziehungszeiten im EU-Ausland zählen für die Rente!

Das Recht der Unionsbürger auf Freizügigkeit kann dazu führen, dass in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegte Erziehungszeiten bei der Berechnung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung zu berücksichtigen sind – das hat der EuGH (v. 22.2.2024 – C 283/21) ganz aktuell entschieden.

Worum ging es im Streitfall?

Eine deutsche Staatsangehörige, die in den Niederlanden gelebt hatte und wieder in Deutschland lebt, erhält dort eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Klägerin hatte weder vor noch zu dem Zeitpunkt, zu dem sie mit der Erziehung ihrer Kinder begonnen hat, in Deutschland eine Beschäftigung oder eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt. Dagegen hatte sie dort sowohl vor als auch nach diesen Zeiten Versicherungszeiten für Ausbildungs- oder Beschäftigungszeiten zurückgelegt; in den Niederlanden hatten sie nie gearbeitet.

Sie wandte sich vor den deutschen Gerichten dagegen, dass die Erziehungszeiten, die sie für ihre beiden Kinder in den Niederlanden zurückgelegt hatte, bei der Berechnung dieser Rente nicht berücksichtigt wurden. Das mit dem Rechtsstreit befasste Gericht wollte vom EuGH in einem Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) wissen, ob diese Nichtberücksichtigung von in einem anderen Mitgliedstaat zurückgelegten Erziehungszeiten mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

Wie hat der EuGH entschieden?

Der EuGH hat festgestellt, dass die Betroffene die in den europäischen Rechtsvorschriften über die Koordinierung der nationalen Systeme der sozialen Sicherheit aufgestellten Voraussetzungen für die Berücksichtigung dieser Zeiten nicht erfüllt (Art. 44 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. 2009, L 284, S. 1). Des Weiteren stellt der EuGH fest, dass Deutschland derjenige Mitgliedstaat ist, der für die Gewährung der fraglichen Rente ausschließlich zuständig ist. Die Klägerin hat in den Niederlanden nämlich keinen Anspruch auf eine solche Rente, da sie dort nie gearbeitet hat. Damit können die streitigen Zeiten in den Niederlanden nicht berücksichtigt werden.

Bei einer solchen Sachlage ergibt sich aus dem Recht der Unionsbürger, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Art. 21 AEUV) , dass der für die Rente wegen voller Erwerbsminderung leistungspflichtige Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall also Deutschland) die Erziehungszeiten zu berücksichtigen hat, die in einem anderen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall den Niederlanden) zurückgelegt wurden. Bei der in Rede stehenden Sachlage besteht nämlich eine hinreichende Verbindung zwischen den Erziehungszeiten und den Versicherungszeiten, die die Betroffene aufgrund einer Berufstätigkeit im für die Rente leistungspflichtigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat.

Dass sie in diesem Mitgliedstaat während bestimmter Zeiten, die nach seinem nationalen Recht Versicherungszeiten gleichgestellt sind, keine Beiträge entrichtet hat, insbesondere weder vor noch unmittelbar nach den Erziehungszeiten, lässt das Bestehen einer solchen Verbindung unberührt.

Welche praktischen Auswirkungen hat die Entscheidung?

Nach Ansicht des EuGH besteht im Streitfall eine hinreichende Verbindung zwischen den Erziehungszeiten und den Versicherungszeiten, die ein EU-Bürger aufgrund einer Berufstätigkeit im für die Rente leistungspflichtigen Mitgliedstaat zurückgelegt hat. Das bedeutet in der Praxis, dass auch im EU-Ausland zurückgelegte Erziehungszeiten bei einer im Inland zu zahlenden gesetzlichen Rente nach § 56 SGB VI berücksichtigungsfähig sein können. Unionsbürger können damit während ihres gesamten Lebens in verschiedenen Mitgliedstaaten leben und arbeiten. Sie dürfen auch ihre „Karriere unterbrechen“ und sich der Erziehung ihrer Kinder widmen, ohne dass sich das bei der gesetzlichen Rente nachteilig auswirkt.

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