Das Astsägemassaker oder: Wilder Westen – auch in der Provinz

Ist etwas „überragend“, sollte man meinen, das ist toll. Nicht so im Nachbarrecht, jedenfalls wenn es Äste sind, die die Grundstücksgrenze überragen. Das Nachbarrecht ist aber auch kompliziert: Zäune, Abstandsflächen, Wurzeln, Bienen, krähende Hähne, was Sie wollen. Da kann es schon mal zu hollywoodreifen Showdowns à la „Ein Mann sieht Baum“ oder „Für ein paar Zweige mehr“ kommen. Zu Bäumen hat der BGH (Urteil vom 11.06.2021 – V ZR 234/19) einen wichtigen Alltagsfall geklärt:

Auf dem Grundstück von Sundance Kid steht seit 40 Jahren ein Nadelbaum an der Grenze zu Calamity Janes Grundstück. Der Baum wurde zwar mal mit dem richtigen Abstand gepflanzt, ist aber mittlerweile 15 m hoch. Sundance hat es auch nicht so mit der Baumpflege. Seit mindestens 20 Jahren wachsen die Äste auf das Grundstück von Jane, aber nicht nur das: Jane stört es, dass der Baum das ganze Jahr über massiv Nadeln verliert. Auf dem Boden unter den Ästen wächst nichts mehr und der Boden versauert. Außerdem fallen die Nadeln bis auf ihre Terrasse und sie muss immer in die Ecken kriechen, um sie aufzufegen. Jane setzt Sundance eine Frist: Er soll seinen Baum beschneiden, sonst mache sie das. Sundance ist aber mit seinem Kumpel Butch gerade beschäftigt und reagiert nicht. Jane greift selbst zur Säge. Sundance weiß, wozu Jane fähig ist und bekommt jetzt doch Angst um seinen Baum. Er will das drohende Astsägemassaker verhindern. Er verklagt Jane, die Kettensägeaktion zu unterlassen.

Ohne Erfolg! Jane darf die Säge ansetzen – auch wenn Sundances Baum eingehen sollte!

Warum ist das so?

Dazu gibt es mal eine ausnahmsweise klar verständlich und einfach zu lesende Norm. § 910 BGB lautet:

(1) Der Eigentümer eines Grundstücks kann Wurzeln eines Baumes oder eines Strauches, die von einem Nachbargrundstück eingedrungen sind, abschneiden und behalten. Das Gleiche gilt von herüberragenden Zweigen, wenn der Eigentümer dem Besitzer des Nachbargrundstücks eine angemessene Frist zur Beseitigung bestimmt hat und die Beseitigung nicht innerhalb der Frist erfolgt.
2) Dem Eigentümer steht dieses Recht nicht zu, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen.

Aber so einfach ist das natürlich alles nicht. Denn das Gesetz spricht nur von herüberragenden Zweigen, aber nicht von fallenden Nadeln oder Blättern. Denn Achtung: Dies ist kein Überfall! Denn das BGB definiert in § 911 BGB den Überfall so: „Früchte, die von einem Baume oder einem Strauche auf ein Nachbargrundstück hinüberfallen, gelten als Früchte dieses Grundstücks…. Da Nadeln und Blätter keine Früchte sind, hilft das aber nicht weiter. Übrigens: „Fallen“ heißt fallen: Schütteln gilt nicht!

Das Gesetz sagt nichts dazu, ob es eine Rolle spielen kann, dass der Baum eventuell geschädigt werden kann, wenn der Nachbar die Säge ansetzt. Daher waren einige Fragen bisher umstritten.

Was gilt jetzt?

Wichtigste Erkenntnis: Für die Frage des Überhangs von Ästen bzw. das Herüberwachsen von Wurzeln auf das Nachbargrundstück gilt nur § 910 BGB, keine andere Norm. Schon im Jahr 2019 hatte der BGH (Urteil vom 14.6.2019 – V ZR 102/18) entschieden, dass § 910 BGB nicht nur die unmittelbare Beeinträchtigung durch das reine Herüberwachsen der Äste regelt, sondern auch alles erfasst, was eine mittelbare Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks darstellt: § 910 BGB umfasst auch den „Überfall“ von Laub, Nadeln und Ähnlichem. Die damalige Entscheidung war deshalb wichtig, weil § 906 BGB die Einwirkung von sogenannten „unwägbaren Stoffen“ – also z.B. Gerüchen, Rauch, Ruß, Wärme, Geräusch, Erschütterungen usw. – regelt. Diese Norm ist im Gegensatz zu § 910 BGB sehr kompliziert, der BGH sagt hier erfreulicherweise, dass sie bei den herüberragenden Ästen und dem herabfallenden Laub nicht gilt.

Warum ist das so?

Der Gesetzgeber wollte, dass das Selbsthilferecht einfach und allgemeinverständlich ausgestaltet sein soll und eine rasche Erledigung von Nachbarstreiten ermöglicht. Die Ausübung des Selbsthilferechts soll nicht mit Haftungsrisiken belastet sein.

Jane darf zur Säge greifen…

Falls die Voraussetzungen des § 910 Abs 1 S. 2 BGB (herüberwachsende Zweige, fruchtlose Fristsetzung des gestörten Nachbarn an den Baumeigentümer) vorliegen, darf der Nachbar sich also schon mal auf den Weg zum Geräteschuppen machen. Bevor er die Säge dann aber am Ast ansetzt, sollte er vorher geprüft haben, ob die Benutzung seines Grundstückes tatsächlich objektiv beeinträchtigt ist.

…(nur) wenn die Nutzung ihres Grundstücks objektiv beeinträchtigt ist.

Denn Achtung: Das Selbsthilferecht entfällt, wenn der Überhang die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigt. Dies ist objektiv zu beurteilen. Es reicht also nicht, dass sich Jane durch den Überhang beeinträchtigt fühlt. Die Umstände in unserem Fall sind allerdings schöne Beispiele für objektive Beeinträchtigungen.

Keine Fristsetzung bei Wurzeln nötig

Wegen des klaren Wortlauts von § 910 BGB muss der Nachbar bei Wurzeln keine Frist setzen und kann grundsätzlich gleich die Axt holen.

Ausnahme: Naturschutzrecht

Aber Achtung: Ausnahmen kann es geben, wenn der Baum unter Naturschutz steht!

Keine Abwägung

Der BGH hat jetzt geklärt, dass das Selbsthilferecht besteht, wenn die Voraussetzungen des § 910 Abs. 1 BGB vorliegen. Ohne Wenn und Aber. Es entfällt, wenn die Voraussetzungen von § 910 Abs. 2 BGB vorliegen. Jane hat nur das Risiko, dass sie prüfen muss, ob eine objektive Beeinträchtigung ihres Grundstücks vorliegt. Sie muss aber keine „Abwägung“ im Sinne einer Verhältnismäßigkeits- oder Zumutbarkeitsprüfung vornehmen.

Und wenn das Risiko besteht, dass der Baum eingeht?

Das muss Jane nicht kümmern. Sie muss nicht vorher prüfen, ob das Abschneiden der Wurzeln oder Zweige die Standfestigkeit des Baumes gefährdet oder aus sonstigen Gründen zum Absterben des Baumes führen kann.

Der Grund ist eigentlich einleuchtend: Der Baumeigentümer muss dafür sorgen, dass Baumwurzeln oder Zweige nicht über die Grenzen des Grundstücks hinauswachsen. Er muss sein Grundstück ordnungsgemäß bewirtschaften. Daran fehlt es, wenn er die vorgeschriebenen Grenzabstände für Anpflanzungen nicht einhält oder aber den Baum nicht richtig pflegt, also ggf. zurückschneidet. Verstößt er gegen seine eigenen Pflichten, kann er später nicht unter Hinweis auf die Gefährdung des Baumes von seinem Nachbar verlangen, das Abschneiden zu unterlassen. Weil er selbst den Anlass gesetzt hat, muss er die Beeinträchtigung des Baumes bzw. seines eigenen Grundstücks hinnehmen.

Ob das der Grund war, warum Sundance und Butch todesmutig gemeinsam aus dem vom Militär umstellten Haus stürzen, ist leider nicht überliefert.

5 Gedanken zu “Das Astsägemassaker oder: Wilder Westen – auch in der Provinz

  1. Ich bin kein Jurist, aber ich meine, dass es auch ein länderbezogenes Nachbarschaftsrecht z.B. für Baden-Württemberg gibt, welches hier (zumindest ergänzend) zu beachten ist.

  2. Sehr geehrter Herr Breuninger, vielen Dank für den Hinweis, das hätte ich noch erwähnen sollen:
    Es ist richtig, dass es in vielen – aber nicht allen – Ländern Nachbargesetze. Regelungsgehalt der Nachbargesetze der Länder ist aber was die Frage anbelangt ein anderer. Dort geht es um Heckenhöhen Abstände usw. Au0erdem gibt es auch noch lokale Ortssatzungen. Einzelheiten können Sie hier nachlesen: https://www.breiholdt-legal.de/die-kirschen-in-nachbars-garten-oder-ist-ein-bambus-eine-hecke/
    Ich werde ihren Hinweis zum Anlass nehmen, den Artikel zu aktualisieren!

  3. Bei all den Details im Nachbarrecht in puncto Grundstücksgrenze bin ich sehr froh, dass wir in einem Haus leben werden, das etwa hundert Meter vom nächsten Nachbar entfernt sein wird. Das ist der Vorteil daran, in einem winzigen Dorf zu leben. Vermessen werden unsere Grundstücksgrenzen natürlich trotzdem. Jedoch ist das Potenzial, uns mit den Nachbarn zu verkrachen, deutlich niedriger.

  4. Alles, was sich im Internet findet, dreht sich darum, dass ein Baum nahe an die Grundstücksgrenze gepflanzt wird.
    Aber wie ist ein Baum geschützt (Stadt kriegt keine Baumschutzsatzung auf die Reihe), der vermutlich älter ist als die Grenze?

    Meine Gross- und urgrosseltern haben das ehemalige Gärtnereigelände in der 50ern und 60ern verkauft, heute alles Gewerbegebiet.
    Die Eiche war da schon groß.
    Neuer Nachbar baut jetzt kundenparkplatz, wo der Vorgänger mitarbeitergaragen hatte und hat Angst um sein Pflaster.
    Schnitt würde den Baum faktisch halbieren.
    Wurde vor ein paar Jahren schon rundum gekürzt, aber ist halt ein slter, mächtiger baum.

    • Sehr geehrter Herr Neumann.

      ich verstehe Ihre Frage so, dass der Baum ursprünglich sozusagen mitten im Grundstück stand, das Grundstück später geteilt wurde und er jetzt an der Grenze steht. Das Gesetz spricht tatsächlich nur davon, dass die Wurzeln über die Grenze wachsen. Die Reihenfolge, ob der Baum an die Grenze wächst oder quasi umgekehrt die Grenze an den Baum gerückt ist, spielt leider keine Rolle. Hinterher ist man natürlich immer schlauer, aber man hätte dieses Problem eventuell bei der Grundstücksteilung erkennen und regeln können.

      Vielleicht können Sie ja mit dem Nachbarn reden, dass er an dieser Stelle eine Aussparung lässt und auf ein oder 2 Parkplätze verzichtet.

      Im Übrigen besteht das Selbsthilferecht nicht, wenn die Wurzeln oder die Zweige die Benutzung des Grundstücks nicht beeinträchtigen.
      Also alleine die Angst des Nachbarn, dass die Parkplätze gefährdet würden, würde nicht ausreichen, damit er die Wurzeln kappen darf.

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