Der Gesellschafter-Geschäftsführer – Ein Goldesel für die Sozialversicherung? (Teil 1)

Mit Urteil vom 28.6.2022 (B 12 R 4/20 R) unterwirft das Bundessozialgericht die Gesellschafter-Geschäftsführer einer Rechtsanwalts-GmbH der Sozialversicherungspflicht. Auf deren berufsrechtliche Unabhängigkeit komme es nicht an, maßgeblich sei vielmehr ihre fehlende Rechtsmacht in der Gesellschafterversammlung; sie verfügten über keine Sperrminorität und könnten deshalb in der Versammlung nicht ihren Willen durchsetzen.

Ein Steuerberater, der für solche Gesellschaften die Lohnbuchhaltung übernimmt, muss diese merkwürdige Rechtsprechung kennen. Wenn er es obendrein unterlässt, eine Statusfeststellung anzuregen, setzt er sich einer Haftung aus (OLG Hamm v. 8.4.2022, 25 U 42/20, kommentiert von Freitag/Meixner, DStR 2023, 659; LG Kiel v. 25.8.2022, 6 O 315/21 und v. 16.8.2022, 6 O 275/20, kommentiert von Freitag/Bertrand, DStR 2023, 1221). Ob die betroffene Anwalts-GmbH Verfassungsbeschwerde erhoben hat, ist nicht bekannt, aber es wäre höchste Zeit, dass dieser Weg einmal gegangen wird.

Die Anwälte beriefen sich u. a. auf die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung (BVerfG v. 15.12.2015, 2 BvL 1/12). Es nützte nichts, nur der naive Jurist glaubt noch an die Einheit der Rechtsordnung (Heuermann, Anm. zu BFH V R 12/21, DStRE 2023, 651).

Bewegt sich das Bundessozialgericht im Abseits? 

1. Prinzipienloses Recht ist Unrecht

Klaus Tipke hat F. A. v. Hayek zitiert (DB 40/2008, Gastkomm.): „Freiheit kann nur erhalten werden, wenn sie Prinzipien folgt und sie wird zerstört, wenn sie der Zweckmäßigkeit folgt“. Ein Jahr vorher forderte der inzwischen leider verstorbene Rechtswissenschaftler im Steuerrecht mehr Prinzipientreue (Tipke, BB 2007, 1525). Das Bundesverfassungsgericht hat sich seiner Linie umgehend angeschlossen, der fiskalische Einnahmenerhöhungszweck sei kein besonderer Rechtfertigungsgrund, um Rechtsprinzipien aufzuweichen (BVerfG v. 9.12.2008, 2 BvL 1/07, 2 BvL 2/07, 2 BvL 1/08, 2 BvL 2/08).

Gut zehn Jahre früher stellt das Bundesverfassungsgericht fest, von der Rechtsprechung entwickelte Kriterien hätten nur indizielle Bedeutung, ein einziges Kriterium genüge nicht, um daraus Rechtsfolgen abzuleiten (BVerfG v. 7.11.1995, 2 BvR 802/90). Das Bundessozialgericht betont zwar immer wieder, für die Sozialversicherungspflicht von Geschäftsführern komme es auf eine Würdigung aller Umstände an, aber letztlich entscheidend ist dann doch seit der Rechtsprechungsänderung im Jahr 2001 (BSG v. 18.12.2001, B 12 KR 10/01 R) allein die „Rechtsmacht“. Andere Kriterien werden zwar in die Würdigung aufgenommen, aber regelmäßig verworfen.

Deshalb stört es die Bundesrichter nicht, wenn die Einstufung des Geschäftsführers auf anderen Rechtsgebieten zu entgegengesetzten Ergebnissen kommt (siehe z.B. Borggräfe/Mischnik, DB 2022, 1452; Altmeppen, NJW 2022, 2785

2. Das Außen- und Innenrecht von Personenverbänden

Seit Jahren hebt das Bundesverfassungsgericht die besondere Bedeutung der abschirmenden Sphäre der Kapitalgesellschaft gegenüber ihren Gesellschaftern hervor (erstmals vermutlich BVerfG v. 21.6.2006, 2 BvL 2/99; beachte BFH v. 22.4.2015, X R 25/13). Deshalb unterliegt die sog. Freiberufler-GmbH der Gewerbesteuer (BVerfG v. 24.3.2010, 1 BvR 2130/09, erwähnt im Urteil FG München v. 13.7.2021, 6 K 215/19).

Dieser Grundsatz hindert die Finanzrichter gleichwohl nicht, wenn es denn dem Fiskalzweck nützt, auf die Gesellschafter eines Personenverbandes durchzugreifen. Ein klassisches Beispiel ist die Betriebsaufspaltung, bei der die Durchgriffsbetrachtung eher ausgebaut statt abgebaut wird (siehe nur Roser, GmbHR 2022, 1020; Riedel, DStR 2023, 1051). Über die ständige Mahnung des Bundesverfassungsgerichts, fiskalische Zwecke stellten keine sachliche Begründung dar, um von Rechtsgrundsätzen abzuweichen (wiederholt z.B. im Beschluss BVerfG v. 29.3.2017, 2 BvL 6/11), setzen sich die obersten Finanzrichter gerne hinweg. Sie befinden sich damit in guter Gesellschaft mit dem Bundessozialgericht.

3. Die organisatorische Verfassung der GmbH

Eine juristische Person kann nur über ihre gesetzlichen Vertreter am Rechtsverkehr teilnehmen. Das ergibt sich unmittelbar aus dem Gesetz (§ 35 Abs. 1 GmbHG). Deshalb berührt der Gesellschaftsvertrag in erster Linie das Verhältnis der juristischen Person zu den Organen und das Verhältnis der Organe untereinander, soweit die gesetzlichen Regeln nachgiebig sind (siehe § 45 Abs. 2 GmbHG).

Der Gesellschaftsvertrag erstreckt sich in diesem Sinne allein auf die organisatorische Verfassung der Gesellschaft. Die Satzung ist korporativer Natur, sie hat mit etwaigen Beschäftigungsverhältnissen der Organe nichts zu tun. Nur in den internen Angelegenheiten der Gesellschaft spielen die Beteiligungsverhältnisse eine Rolle.

Das Dienstverhältnis des Geschäftsführers hingegen ist schuldrechtlicher Natur. Geschäftsführer wird er bereits mit seiner organschaftlichen Bestellung. Nur bei diesem Gesamtakt (Beschluss) kommt es auf die Stimmverhältnisse in der Gesellschafterversammlung an. Der Dienstvertrag hingegen wird mit der Gesellschaft geschlossen, es handelt sich um ein zweigliedriges Rechtsgeschäft. Bei diesem Rechtsgeschäft wird die Gesellschaft ausnahmsweise von der Gesellschafterversammlung vertreten (BGH v. 3.7.2000, II R 282/98, DStR 2000, 1743).

Als Organ ist der Geschäftsführer einer erheblichen Haftung ausgesetzt (siehe nur Henne/Dittert, DStR 2019, 227). Diese Organhaftung unterscheidet den Geschäftsführer grundlegend von einem Arbeitnehmer. Deshalb wird der Geschäftsführer we-der im Gesellschaftsrecht noch im Arbeitsrecht als Arbeitnehmer behandelt (zur steuerlichen Beurteilung siehe Seer, GmbHR 2011, 225; ders., GmbHR 2012, 563).

Ausnahmen bestehen nur bei einem Fremdgeschäftsführer oder bei einem abberufenen Geschäftsführer, wenn er anschließend im Unternehmen als normaler Angestellter weiterarbeitet.

Die sog. Annexkompetenz der Gesellschafterversammlung entfällt, die Gesellschaft kann gegenüber dem abberufenen Geschäftsführer vom neuen Geschäftsführer vertreten werden, der Regeltatbestand geht dem Ausnahmetatbestand vor, die Gesellschafterversammlung verliert ihre hilfsweise Rolle als Vertretungsorgan (BGH v. 3.7.2018, 7 U 452/17; vgl. Werner, NWB 7/2019, 418).

Als „arbeitnehmerähnlich“ könnte ein Geschäftsführer ferner einzustufen sein, wenn er im Innenverhältnis von der Organhaftung freigestellt ist.

In Wirklichkeit hilft die Rechtsstellung in der Gesellschafterversammlung dem Gesellschafter-Geschäftsführer wenig. Selbst dem beherrschenden Gesellschafter bringt seine Überlegenheit in der Versammlung nichts, wenn er etwa entlastet werden soll. Er unterliegt dann einem Stimmverbot (§ 47 Abs. 4 GmbHG).

Einen „Minderheitsgeschäftsführer“ kennt das Gesellschaftsrecht nicht. Die schon in der Begriffswahl befremdliche Rechtspraxis in der Sozialversicherung ist ergebnisorientiert, sie missachtet die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung und enthält damit ein Element der Willkür (siehe BVerfG 2 BvL 1/12).

Wer als Geschäftsführer mit 25% an der Gesellschaft beteiligt ist, sieht sich nicht nur einer Organhaftung ausgesetzt, er trägt darüber hinaus ein beachtliches unternehmerisches Risiko. Das beginnt bei der kollektiven Deckungspflicht gem. § 24 GmbHG (BGH v. 18.9.2018, II ZR 312/16) sowie der sog. Differenzhaftung (§ 22 GmbHG) und endet in der Insolvenz mit dem gesetzlichen Rangrücktritt von Ansprüchen aus einem Gesellschafterdarlehen (§ 39 Abs. 2 Nr. 5 und Abs. 5 InsO). Der gesetzliche Rangrücktritt greift bereits bei einer Beteiligung von mehr als 10%. Beim früheren Eigenkapitalersatzrecht gab es ebenfalls diese Grenze (§ 32a Abs. 3 Satz 2 GmbHG a. F.).

Für den BGH beginnt die unternehmerische Beteiligung daher nicht erst bei einem Stimmrecht von mehr als 50%. Auch im Unionsrecht bedarf es keiner Beteiligung von mehr als 50%, um von den Niederlassungsfreiheiten in der Union Gebrauch machen zu können (siehe nur BFH v. 24.7.2018, I R 75/16). Bereits mit 25% verfügt der Gesellschafter über eine sog. Sperrminorität, er vermag damit substanzielle Entscheidungen der Gesellschaft maßgeblich zu beeinflussen. Bei solchen Grundlagengeschäften (z.B. Satzungsänderung, § 53 Abs. 2 GmbHG oder Auflösung der Gesellschaft, § 60 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) hat er eine starke Rechtsposition, er kann eine strategisch unerwünschte Geschäftspolitik des beherrschenden Gesellschafters blockieren (zur vergleichbaren Konstellation bei Grundgesetzänderungen siehe Art. 79 Abs. 2 GG).

Hier endet der erste Teil. Im zweiten Teil wird auf die schuldrechtliche Beziehung und auf die Rolle der Organe eingegangen.


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