Die Krux mit den Vorläufigkeitsvermerken

Oftmals gibt es ein böses Erwachen, wenn Steuerbürger auf den Umfang eines Vorläufigkeitsvermerks vertraut haben und sich im Nachhinein herausstellt, dass zwar der Wortlaut eine umfassende Vorläufigkeit hergab, die Finanzverwaltung (und auch die Gerichte) aber den Sinn und Zweck bzw. den Kontext des Vorläufigkeitsvermerks in ihre Betrachtung einbeziehen. Anders ausgedrückt: Ist ein Vorläufigkeitsvermerk im Hinblick auf die Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift ergangen, so kann ein Steuerbürger keine Änderung seines Steuerbescheids erlangen, wenn es sich in seinem Fall nur um die Auslegung des “einfachen” Steuerrechts handelt. Im Blog-Beitrag „Traue niemals einem Vorläufigkeitsvermerk“ habe ich diesbezüglich auf ein Urteil des FG Baden-Württemberg vom 12.12.2018 (14 K 3172/17) hingewiesen.

Doch die Sache mit den Vorläufigkeitsvermerken kann auch andersherum laufen, also zuungunsten des Fiskus. Insbesondere bei Änderungsbescheiden wird die Finanzverwaltung zuweilen ihrer eigenen Vorläufigkeitsvermerke nicht mehr Herr. Das gilt etwa dann, wenn manuell gesetzte Vorläufigkeitsvermerke nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO mit Vorläufigkeitsvermerken nach § 165 Abs. 1 Satz 2 AO zusammentreffen, die automatisiert von den Rechenzentren der Finanzverwaltung gesetzt werden, also für Fälle, die zum Beispiel aufgrund von Musterverfahren vor den obersten Gerichten offen gehalten werden. Dann kann es schon einmal passieren, dass der manuelle Vermerk plötzlich im Änderungsbescheid nicht mehr auftaucht.  Die Frage ist dann, ob das Finanzamt den Steuerbescheid später dennoch in diesem („manuellen“) Punkt ändern darf.

Beispiel: Das Finanzamt erlässt einen Steuerbescheid – unter Anerkennung eines Verlustes aus einer selbstständigen Tätigkeit – vorläufig, weil es noch eine mögliche Liebhaberei prüfen will. Gleichzeitig umfassen die Erläuterungen zum Steuerbescheid mehrere „automatische“ Vorläufigkeitsvermerke. Nach einigen Monaten ergeht ein geänderter Bescheid nach § 175 AO, weil Beteiligungseinkünfte erfasst werden. Der manuelle Vorläufigkeitsvermerk wird aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht mehr mit aufgenommen. Nach Jahren gelangt das Finanzamt endgültig zu der Überzeugung, dass eine Liebhaberei gegeben ist.

Jüngst hat der BFH entschieden, dass ein Vorläufigkeitsvermerk in einem Änderungsbescheid den Umfang der Vorläufigkeit neu regelt. Fehlt einer der vorherigen Vorläufigkeitsvermerke, gilt er rechtlich als nicht mehr vorhanden; der Bescheid ist insoweit endgültig und kann in diesem Punkt grundsätzlich nicht mehr geändert werden (BFH-Urteil vom 16.6.2020, VIII R 12/17). Das Finanzamt schaut also im o.g. Fall in die Röhre.

Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der BFH u.a. mit Urteil vom 14.7.2015 (VIII R 21/13, BStBl 2016 II S. 371) entschieden hat, dass ein vergessener Vorläufigkeitsvermerk nicht stets als aufgehoben gilt. Das wäre dann der Fall, wenn dem Steuerzahler nach seinem „objektiven Verständnishorizont“ hätte klar sein müssen, dass der Vorläufigkeitsvermerk weiter gelten sollte. Mir fallen aber nicht allzu viele Fälle ein, in denen diese Rechtsprechung heutzutage noch greifen könnte, denn dazu sind die Erläuterungen zum Steuerbescheid zu umfassend geworden.

Ein Kommentar zu “Die Krux mit den Vorläufigkeitsvermerken

  1. Mich würde interessieren, ob das Finanzamt verpflichtet ist, einen Vorläufigkeitsvermerk zu setzen, wenn es eine Rechtspraxis anwendet, die gleichzeitig noch auf ihre Rechtmäßigkeit vor dem höchsten Finanzgericht überprüft wird.
    Oder ist es so, dass es reine Willkür ist, ob ein solcher Vermerk erfolgt oder nicht.

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