Kindergeld-Verweigerung für nicht erwerbstätige EU-Bürger in den ersten drei Monaten verfassungswidrig

Mitte 2019 ist das „Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch“ in Kraft getreten. Mit dem genannten Gesetz haben die Familienkassen eigene Prüfungskompetenzen erhalten, um Missbrauch von Kindergeld zu verhindern. Neu nach Deutschland zugezogene EU-Bürgerinnen und -Bürger sind im Übrigen in den ersten drei Monaten vom Leistungsbezug, also von der Kindergeld-Berechtigung, ausgeschlossen, sofern sie keine inländischen Einkünfte erzielen (§ 62 Abs. 1a Satz 1 EStG).

Auch laufende Kindergeldzahlungen kann die Familienkasse in begründeten Zweifelsfällen nun vorläufig einstellen. Bei allem Respekt für die Intention des Gesetzes, nämlich die „Abschöpfung“ des Kindergeldes, standen vielen Menschen bei einigen Passagen des Gesetzes und seiner Begründung die Haare zu Berge, da die Ausführungen sowohl moralisch als auch rechtlich zweifelhaft erscheinen.

Der neue § 71 EStG etwa schlägt dem Fass den Boden aus: Die Familienkassen werden ermächtigt, laufende Kindergeldzahlungen vorläufig einzustellen – und zwar ohne Bescheid! Durch die Regelung werde eine Überzahlung verhindert und die Anzahl der Fälle verringert, in denen ein höherer Betrag vom Kindergeldempfänger zurückzufordern ist. Wer sieht, wie viele Verfahren die Familienkassen vor den Finanzgerichten verlieren, der kann die Begründung der Neuregelung eigentlich nur als zynisch betrachten.

Wie zu erwarten war, wird sich alsbald auch der EuGH mit dem Gesetz befassen müssen, speziell dem § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG, also dem Ausschluss vom Kindergeld für die ersten drei Monate bei fehlender Erwerbstätigkeit. Denn soeben hat das FG Bremen Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des dreimonatigen Kindergeldausschlusses angemeldet. Mit Vorlagebeschluss vom 20.8.2020 (2 K 99/20) hat es ein entsprechendes Verfahren ausgesetzt und bittet den EuGH um Klärung.

Es geht um den Antrag einer bulgarischen Staatsangehörigen auf Gewährung von Kindergeld für die Monate August bis Oktober 2019. Dieser wurde abgelehnt, da sie in diesem Zeitraum nicht erwerbstätig war. Die Bremer Finanzrichter halten die Ablehnung für bedenklich. Begründung: Das deutsche Kindergeld ist eine Leistung der sozialen Sicherheit, die unter die Verordnung 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit fällt. Diese verpflichtet die Mitgliedstaaten, Unionsbürger und eigene Staatsangehörige gleich zu behandeln. § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG schließt die Kindergeldberechtigung jedoch nur für Unionsbürger, nicht aber für deutsche Staatsangehörige aus. Der deutsche Gesetzgeber geht davon aus, dass die Ungleichbehandlung von Unionsbürgern und deutschen Staatsangehörigen gerechtfertigt ist, da das Kindergeld bei nicht erwerbstätigen Angehörigen anderer Mitgliedstaaten wie eine Sozialleistung wirkt.

Sollte der Ausschluss nicht erwerbstätiger Angehöriger anderer Mitgliedstaaten nicht gerechtfertigt sein, wäre § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht anwendbar. In diesem Fall stünde der Klägerin das begehrte Kindergeld zu. Da die Entscheidung in dem Gerichtsverfahren vor dem FG Bremen von der Auslegung des Unionsrechts abhängt, hat es das Verfahren ausgesetzt und die Auslegungsfrage dem EuGH zur Entscheidung vorgelegt.

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