Maulkorb für den DIHK bei der wirtschaftspolitischen Interessenvertretung?

Das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, dass eine IHK den DIHK verlassen muss, weil der Dachverband seine Äußerungskompetenzen überschritten hat (BVerwG v. 14.10.2020 – 8 C 23. 19). Was ist davon zu halten?

Hintergrund

Aufgabe der 79 deutschen Industrie- und Handelskammern ist es insbesondere, das wirtschaftliche Gesamtinteresse der ihnen jeweils zugehörigen Gewerbetreibenden zu vertreten (§ 1 Abs. 1 IHK-Gesetz), etwa durch Stellungnahmen und Äußerungen zu Gesetzesvorhaben, Infrastrukturvorhaben in der Region oder Handlungsnotwendigkeiten in der Corona-Krise. Zu diesem Zweck sind sie auch Mitglied im Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK e.V.), der das überörtliche Interesse der rund vier Millionen Gewerbetreibenden aus Industrie, Handel- und Dienstleistungsgewerbe in Berlin und Brüssel gegenüber der Politik vertritt.

Bundesverwaltungsgericht zieht enge Kompetenzgrenzen 

Im Streitfall ging es um folgendes: Die Klägerin ist IHK-Mitglied und beanstandet seit 2007 zahlreiche Äußerungen des DIHK, weil sie über die gesetzlichen Kompetenzgrenzen der Kammern hinausgingen. Die Klage ist in allen Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem ersten Revisionsurteil vom 23.3.2016 (BVerwG 10 C 4.15) entschieden, dass ein grundrechtlicher Anspruch auf Austritt der Kammer aus dem Dachverband besteht, wenn dieser – wie der DIHK – in der Vergangenheit mehrfach und nicht nur in atypischen Ausreißerfällen gegen die Kompetenzgrenzen seiner Mitgliedskammern verstoßen hat und wenn mit einer erneuten Missachtung der Kompetenzgrenzen zu rechnen ist. Es hat den Rechtsstreit an das OVG Münster zurückverwiesen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen zu den Reaktionen des Verbandes auf die Kritik an seinen Äußerungen, insbesondere zu einem etwa für die Kammermitglieder verfügbaren verbandsinternen wirksamen und effektiven Schutz gegen grundrechtswidrige Aufgabenüberschreitungen, treffen konnte.

Das OVG Münster (12.4.2019 – 16 A 1499/09) hat einen auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützten Austrittsanspruch der Klägerin erneut verneint. Zwar hätten auch zahlreiche Äußerungen des DIHK seit 2016 die Kompetenzgrenzen seiner Mitgliedskammern überschritten. Auch fehle dem Verband die Einsicht in vergangene Aufgabenüberschreitungen und ein ausreichendes Bewusstsein für die vom Bundesverwaltungsgericht verdeutlichten Grenzen seiner Öffentlichkeitsarbeit. Er habe den Kammermitgliedern in seiner DIHK-Satzung mittlerweile jedoch einen klagefähigen Anspruch auf Unterlassung weiterer Überschreitungen eingeräumt. Dies rechtfertige trotz des Mangels an Einsicht die Annahme, dass zukünftig weitere Verstöße verhindert werden könnten.

Jetzt hat das BVerwG (14.10.2020 – 8 C 23.19) abschließend entschieden: Das Mitglied einer Industrie- und Handelskammer (IHK) kann den Austritt seiner Kammer aus dem Dachverband Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK e.V.) verlangen, wenn dieser mehrfach und nicht nur in atypischen Ausreißerfällen die gesetzlichen Kompetenzgrenzen der Kammern überschritten hat und keine hinreichenden Vorkehrungen bestehen, um die Wiederholung von Kompetenzverstößen zuverlässig zu verhindern. Die beklagte IHK muss also jetzt also aus dem DIHK e.V. austreten.

Bewertung und Auswirkungen auf die Praxis

Was ist von der Entscheidung zu halten? Sicher ist richtig, dass der DIHK als privatrechtlicher Verein keine weitergehenden Befugnisse haben kann als seine Mitglieds- IHKn.  Diese haben die Aufgabe, das Gesamtinteresse der gewerbetreibenden in ihrem jeweiligen IHK-Bezirk zu vertreten und zu artikulieren (§ 1 Abs. 1 IHK-Gesetz), etwa in Positionspapieren oder wirtschaftspolitischen Stellungnahmen. Dabei dürfen sie weder polemisieren noch abweichende Minderheitsmeinungen unterdrücken, ferner haben sie das Neutralitätsgebot zu beachten sowie dafür zu sorgen, dass ihre Äußerungen stets einen wirtschaftlichen Bezug zu den Interessen der Gewerbetreibenden in ihrem Bezirk haben. Das Bundesverwaltungsgericht verkennt in seiner – bislang noch nicht begründeten – Entscheidung allerdings, dass wirtschaftspolitische Interessenvertretung heutzutage mit Rücksicht auf die Globalisierung und Verflechtung der Wirtschaft etwas anderes bedeutet als zum Zeitpunkt der Entstehung des IHK-Gesetzes im Jahr 1956.

Wo verlaufen exakt in der global vernetzten Marktwirtschaft die Grenzen des Wirtschaftsbezugs, wo fängt die Allgemeinpolitik an, die für Kammern perdu ist? Muss sich nicht der Spitzenverband der deutschen Wirtschaft auch auf internationalemParkett zur Einhaltung von Menschenrechten äußern dürfen, wenn die Politik beispielsweise ein Lieferkettengesetz plant? Auch das Bundesverfassungsgericht hat erst im Jahr 2017 (BVerfG v. 12.7.2017 – 1 BvR 2222/12 Rz 104) die wirtschaftspolitische Notwendigkeit des DIHK als gemeinsamen Dachverband der IHKn und seine Rolle als Ratgeber der Politik bekräftigt. Danach kann es für die örtliche Wirtschaft „gerade mit Blick auf Europäisierung und Globalisierung besonders wichtig sein, die bezirklichen Perspektiven zur Geltung zu bringen“, das kann nicht eine einzelne IHK leisten, sondern nur ein gemeinsamer Dachverband in Berlin und Brüssel. Und: Ist es wirklich sachgerecht, dass die Organe des DIHK sich künftig vorab mit Journalisten abstimmen sollen, welcher Fragenkatalog und welches Antworten Paket gerade noch zulässig ist? Eine solche Abgrenzung wäre weltfremd.

Klar ist jedenfalls: das Urteil wirkt nur zwischen den Parteien, verpflichtet also keine der anderen 78 IHKn in Deutschland, „Hals über Kopf“ ihre Mitgliedschaft im DIHK zu kündigen. Damit bleiben nicht nur die IHKn, sondern auch der DIHK funktionstüchtig und handlungsfähig – das ist gut so! Allerdings muss der DIHK jetzt auch wirksame Vorkehrungen treffen, um abermalige Kompetenzverstöße zu verhindern. Hierbei könnte auch die Politik helfen, die ja gerade auf den wirtschaftspolitischen Beratungssachverstand des DIHK angewiesen ist: Indem der gesetzliche Handlungsrahmen des DIHK in § 1 Abs. 1 IHK-Gesetz so erweitert wird, wie dies in einer modernen und global vernetzten Marktwirtschaft erforderlich ist, wenn es um die Interessenwahrnehmung der deutschen Wirtschaft geht.

Quellen

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