Verfassungsmäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht – Welche Lehren sind aus der Entscheidung des BVerfG zu ziehen?

Das BVerfG (1 BvR 2649/21) hat mit seiner am 19.5.2022 veröffentlichten Entscheidung die Verfassungsmäßigkeit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht bestätigt. Dies ist ein „juristischer Meilenstein“ in der COVID-19-Pandemiebekämpfung.

Welche Fernwirkung hat das verfassungsgerichtliche Machtwort?

Hintergrund

Ich habe im Blog wiederholt berichtet: Durch Gesetz vom 10.12.2021 (BGBl 2021 I S. 5162), das am 12.12.2021 in Kraft getreten und bis 31.12.2022 befristet ist, hat der Bundesgesetzgeber zum Schutz vulnerabler Gruppen im Gesundheits- und Pflegebereich eine einrichtungsbezogene Impfpflicht eingeführt. Seit Mitte März 2022 müssen Beschäftigte in Pflegheimen, Kliniken, Arztpraxen oder ambulanten Diensten nachweisen, dass sie kürzlich geimpft oder genesen sind (§ 20 a; § 22 a Abs. 1 u 2 IfSG).

Andernfalls kann das Gesundheitsamt ihnen verbieten ihrer Beschäftigung nachzugehen (§ 20a Abs.5 S. 3 IfSG). Diese Regelungen sind bußgeldbewehrt (§ 73 Abs. 1 a IfSG). Nachdem das BVerfG (v. 24.1.2022 – 1 BvR 2380/21) einen Eilantrag gegen dieses Regelungswerk abgelehnt hat, hat das höchste deutsche Gericht jetzt auch in der Hauptsache die Verfassungsmäßigkeit bestätigt.

Wie lauten die wesentlichen Erkenntnisse und was folgt daraus?

Erheblicher Grundrechtseingriff

Die einrichtungsbezogene Impfpflicht „stellt einen nicht unerheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit“ (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) dar, ist also angesichts des mit einer Impfung einhergehenden potentiellen Erkrankungs- oder gar Sterberisikos kein Pappenstiel.  Die einrichtungsbezogene Nachweispflicht als berufliche Tätigkeitsvoraussetzung (§ 20 a Abs. 5 S. 3 IfSG) greift auch in die Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ein.

Schutz vulnerabler Gruppen rechtfertigt Impfpflicht

Die Grundrechtseingriffe sind von Verfassung wegen aber nicht zu beanstanden, sagt das BVerfG. Denn die Impfpflicht dient dem Schutz vulnerabler Gruppen, so dass die Grundrechte der von der einrichtungsbezogenen Impfpflicht im Rahmen einer Grundrechtsabwägung zurücktreten müssen. Das ist vernünftig und nachvollziehbar.

Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers

Besondere Beachtung verdient, dass sich das BVerfG ausführlich mit dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand bei Anordnung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht befasst. Auch wenn sich die wissenschaftliche Erkenntnis mittlerweile geändert hat, rechnet jetzt das BVerfG nicht „gnadenlos“ mit dem Gesetzgeber ab, der im Frühjahr 2022 schlauer ist als er es im Dezember 2021 sein konnte. Das ist gut so, denn hellseherische Fähigkeiten können nicht einmal Parlamentariern abverlangt werden. Sie haben einen Einschätzungsspielraum, wie nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis zum Zeitpunkt der Gesetzesverabschiedung die Sachlage zu beurteilen und mit Rechtsfolgen zu belegen ist. Das ist ein wichtiger Fingerzeig in der weiteren Pandemiebekämpfung: Sollte sich – wie ursprünglich schon vorgesehen – der Bundestag eines erneut explodierenden Infektionsgeschehens abermals mit einer allgemeinen Impfpflicht – gff. für bestimmte Altersgruppen – befassen, muss der Gesetzgeber die dann vorliegende fachwissenschaftliche Erkenntnis zur Kenntnis nehmen und neu bewerten. Eine allgemeine Impflicht „quasi im Handstreich“ wird es also kaum geben.

Politik ist lernfähig

Und noch eines fördert die BVerfG-Entscheidung zutage: Die noch im Eilbeschluss (v. 24.1.2022 – 1 BvR 2380/21) geäußerten „Bedenken“ einer in der Regelungstechnik vorgesehenen doppelten Verweisung vom Gesetz in eine Verordnung und von dort auf die Internetseiten von RKI und Paul-Ehrlich-Institut, gibt das BVerfG in der Hauptsacheentscheidung jetzt auf. Denn der Gesetzgeber hat zwischen zeitlich mit Wirkung ab dem 19.3.2022 das Gesetz geändert und Impf- und Genesenenstatus in § 22a Abs. 1 und 2 IfSG neu geregelt. Das belegt die Reaktionsfähigkeit des Gesetzgebers: Angesichts eines drohenden verfassungsrechtlichen Verdikts ist er ´notfalls in der Lage, quasi „über Nacht“ rechtmäßige Zustände herzustellen. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis.

Quellen

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