Was ist nun Pflichtlektüre für Berater mit Blick auf das Haftungsrisiko – und auf was darf noch vertraut werden?

Immer wieder stellt sich die Frage, auf was ein Berufsträger der steuerberatenden Berufe noch vertrauen darf. Noch 2008 galt, dass solange sich der Steuerberater der bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und des Bundesverfassungsgerichtes orientiert, arbeite er lege artis. Man könne von ihm deshalb „regelmäßig nur verlangen, die Entscheidungen zur Kenntnis zu nehmen, die im Bundessteuerblatt und in der Zeitschrift Deutsches Steuerrecht – dem Organ der Bundessteuerberaterkammer – veröffentlicht worden sind“.

Später in 2014 wandte sich der BGH (IX ZR 199/13) der Thematik zu. Wiederum ging es um die einzigartigen steuerberatenden Berufe. Grundsätzlich dürfe der Steuerberater in „den Fortbestand der höchstrichterlichen Rechtsprechung vertrauen.“ Maßgeblich sei die jeweils aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung – im Zeitpunkt der Beratung. Über deren Entwicklung muss sich der Berater anhand der einschlägigen Fachzeitschriften unterrichten. In Betracht kämen vor allem das vom BMF herausgegeben BStBl und die von der Bundessteuerberaterkammer herausgegebene Zeitschrift „DStR“. Von der äußerst hilfreichen, sehr praxisrelevanten NWB Datenbank und insbesondere der Zeitschrift NWB war damals noch nicht die Rede. Wie würde der BGH aber dies heute beurteilen? Dies im Zeitalter der steuerrechtlichen Voll-Digitalisierung? Auf was muss „Zugriff“ genommen werden? Beispielsweise EU-Websites?

Wie sieht es dazu aber bei den Rechtsanwälten aus?

Fakt ist, dass der Anwalt immer darauf hinzuwirken hat, gerichtliche Fehler möglichst zu vermeiden. Er hat die aktuelle Gesetzeslage zu überblicken, inklusive Europarecht, auch anhängige Gesetzesvorhaben konkreter Art zu verfolgen. Aufgrund eines Dienstauftrags ist der Anwalt seinem Auftraggeber grundsätzlich zu einer umfassenden und erschöpfenden Beratung verpflichtet. Die rechtliche Prüfung hat der Anwalt im Rahmen des Mandates umfassend und sorgfältig nach den einschlägigen Normen und der höchstrichterlichen Rechtsprechung vorzunehmen (vgl. BGHZ 178, 258 Rn. 9).

Maßgeblich ist die jeweils aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung im Zeitpunkt seiner Inanspruchnahme (BGH, WM 2016, 2091 Rn. 9). Hierbei darf der Anwalt i.d.R auf deren Fortbestand vertrauen, weil von einer gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung nur in Ausnahmefällen abgewichen wird (vgl. BGHZ 85, 64, 66).

Entgegenstehende Judikatur von Instanzgerichten und vereinzelte Stimmen im Schrifttum verpflichten den Anwalt regelmäßig nicht, bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben die abweichende Meinung zu berücksichtigen (BGHZ 178, 258 Rn. 9). Eine Änderung der Rechtsprechung hat er dann in Betracht zu ziehen, wenn ein oberstes Gericht darauf hinweist oder neue Entwicklungen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Auswirkungen auf eine ältere Judikatur haben können und es zu einer bestimmten Frage an neueren höchstrichterlichen Entscheidungen fehlt (BGHZ 178, 258 Rn. 9).

Eine Verpflichtung des Beraters, die Rspr. der Instanzgerichte und das Schrifttum einschließlich der Aufsatzliteratur heranzuziehen, kann ausnahmsweise auch dann bestehen, wenn ein Rechtsgebiet aufgrund eindeutiger Umstände in der Entwicklung begriffen und (neue) höchstrichterliche Rspr. zu erwarten ist (BGHZ 178, 258 Rn. 9 ). Hat ein Rechtsanwalt eine Angelegenheit aus einem solchen Bereich zu bearbeiten, muss er auch Spezialzeitschriften in angemessener Zeit durchsehen, wobei ihm ein „realistischer Toleranzrahmen“ zugebilligt wird.

Wie sieht es mit neuen Entscheidungen aus?

Neue Entscheidungen hat der Anwalt nach angemessener Frist nach Veröffentlichung zu kennen (NJW 2009, 1593). Er muss jedoch i.d.R nur über die in den amtlichen Sammlungen und in den einschlägigen allgemeinen Fachzeitschriften veröffentlichten Entscheidungen der obersten Gerichtshöfe des Bundes unterrichtet sein. Grds. ist die höchstrichterliche Rspr. derjenigen Gerichtsbarkeit maßgeblich, der der Mandatsgegenstand unterliegt.

Thematik der „ungeklärte Rechtsfragen“

Ist eine im Schrifttum nicht einheitlich beantwortete Frage noch nicht höchstrichterlich geklärt, muss ein Anwalt damit rechnen, dass die erkennenden Gerichte der für seinen Mandanten ungünstigen Meinung folgen werden (so der BGH).

Ungewöhnliche Fallgestaltungen, die weder Gegenstand einer höchstrichterlichen oder instanzgerichtlichen Entscheidung waren, noch in einem der gängigen Kommentare oder Lehrbücher behandelt werden, hat er auf der Grundlage eigener, juristisch begründeter Erwägungen zu bearbeiten. Entscheidet er sich hierbei für einen von mehreren vertretbaren Lösungswegen, so handelt er nicht fehlerhaft.

Urteil des OLG Düsseldorf zum Vertrauen des Steuerberaters

Das OLG Düsseldorf hat nun einem Urteil vom 16.07.2019 (23 U 180/18) sich mit dem Vertrauen des Steuerberaters in die bestehende höchstrichterliche Rechtsprechung bei sogenannter „fehlender Evidenz“ einer „neuen Rechtsentwicklung“ befassen müssen. Der 23. Senat hat geurteilt, dass mangels anderslautender BFH-Rechtsprechung und „mangels Deutlichkeit“ (Evidenz) einer gegebenenfalls neuen Rechtsentwicklung ein Steuerberater die Einkommensteuerbescheide einer Lebenspartnerschaft nicht durch Einspruch offenhalten muss, auch wenn sie später durch eine Entscheidung des BVerfG ergab, dass die Ungleichbehandlung von verheirateten und eingetragenen Lebenspartner bzw. die Verweigerung des sog. Ehegattensplitting nach dem EStG für eingetragenen Lebenspartner mit Art. 3 GG nicht vereinbar ist

Was bedeutet das nun im Kontext auf die vorherigen Ausführungen?

Im Zeitpunkt des Zugangs des damaligen Bescheides bestanden keine „evidenten“ Anhaltspunkte dafür, dass das BVerfG eine Ungleichbehandlung von verheiraten und eingetragenen Lebenspartner hinsichtlich des Ehegattensplittings als mit dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nicht vereinbart sehen würde. Deshalb musste auch kein vorsorglicher Einspruch gegen den diesbezüglichen Steuerbescheid eingelegt werden. Solange keine entsprechende Vorlage an das BVerfG veröffentlicht ist oder sich ein „gleichstarker Hinweis“ auf die Verfassungswidrigkeit einer Besteuerung aus anderen Umständen, oder einer in ähnlichem Zusammenhang ergangenen, im Bundessteuerblatt veröffentlichten Entscheidung des BVerfG ergibt, besteht also kein Handlungsbedarf.

Allerdings gab es sicher in der Literatur auch schon früher Meinungen, die eine solche Ungleichbehandlung beim Splitting festgestellt haben. Werden insofern die steuerberatenden Berufe hier zukünftig mehr in Schutz genommen? Die Frage bleibt spannend, da oftmals auch ein Blick auf die Rechtsanwälte geworfen wird – und diese sollen ja auch als sichersten Weg davon ausgehen, dass bei einer strittigen Frage die Gerichte, sei es auch die Instanz- Gerichtsbarkeit, mithin das Finanzgericht, später eine andere Auffassung vertreten.

Eine mögliche bevorstehende Änderung der Rechtsprechung haben Berater aber nur dann in Betracht zu ziehen, wenn ein oberstes Gericht sie in Aussicht stellt oder neue Entwicklungen in Rechtsprechung und Rechtswissenschaft Auswirkungen auf eine ältere Rechtsprechung haben können und es zu einer bestimmten Frage an neueren höchstrichterlichen Erkenntnissen fehlt (so das OLG Düsseldorf). Eine Verpflichtung des steuerlichen Beraters, die Rechtsprechung der Instanzgerichte und das Schrifttum einschließlich der Aufsatzliteratur heranzuziehen, kann ausnahmsweise auch dann bestehen, wenn ein Rechtsgebiet aufgrund eindeutiger Umstände in der „Entwicklung“ begriffen und neue höchstrichterliche Rechtsprechung deshalb zu erwarten ist.

Dabei sei darauf abzustellen, welchen Grad an Deutlichkeit (Evidenz) eine neue Rechtsentwicklung erweist und „eine neue Antwort auf eine bisher anders entschiedene Frage nahelegt“. Ferner könne ins Gewicht fallen, „welchen Aufwand, auch an Kosten, der neuen Rechtsentwicklung im Interesse des Mandanten Rechnung getragen werden kann“.

Fazit:

Festzustellen bleibt, dass der ausreichende Grad an Deutlichkeit – doch ein sehr schwammiger Begriff ist, der zukünftig viel Argumentationspotenzial offenlässt, nach allen Seiten.


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