Zum Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung

Falls ein Leistungsempfänger bereits zur Vornahme des Vorsteuerabzugs berechtigt ist, obwohl beim leistenden Unternehmer aufgrund der Gestattung der Ist-Besteuerung noch keine Umsatzsteuer entstanden ist, beruht dies umsatzsteuerrechtlich nicht auf einer missbräuchlichen Gestaltung durch die am Leistungsaustausch beteiligten Steuerpflichtigen, sondern auf einer unzutreffenden Umsetzung oder Anwendung des Art. 167 MwStSystRL durch den Mitgliedstaat Deutschland (BFH-Urteil vom 12.07.2023, XI R 5/21).

Hintergrund:

Der Vorsteueranspruch eines Leistungsempfängers nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG entsteht bereits mit der Ausführung der Leistung und nicht erst mit der Entrichtung des Entgelts. Unerheblich ist, ob der Leistende Soll- oder Ist-Versteuerer ist. Dies ermöglicht eine Vorfinanzierung zu Lasten des Fiskus, wenn der Leistende ein Ist-Versteuerer ist. Das heißt, der Leistungsempfänger zieht die Vorsteuer ab, obwohl er die Leistung – zum Beispiel aufgrund einer Stundung – noch nicht bezahlt hat, während der Leistungsempfänger die entsprechende Steuer noch nicht schuldet. Dieses Ergebnis ist vom nationalen Gesetzgeber im Prinzip gewollt, da er die Regelung über § 20 UStG „ohne Not“ geschaffen hat, denn EU-rechtlich hätte er auch eine zeitliche Korrespondenz von Umsatzsteuer-Entstehung und Vorsteuerabzug regeln können.

Ein Finanzamt witterte in der offenbar bewussten Ausnutzung des Zeitgefälles einen Gestaltungsmissbrauch und wollte dem Leistenden die Gestattung der Ist-Besteuerung versagen bzw. die Genehmigung widerrufen. Allerdings scheiterte es mit seinem Ansinnen beim BFH.

Der Sachverhalt:

Der Kläger ist Unternehmer und besteuert seine Umsätze aufgrund einer Genehmigung vom 02.04.1987, die unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt worden ist, nach vereinnahmten Entgelten. Im Sommer 2015 fand beim Kläger eine Außenprüfung statt. Der Prüferin fiel dabei auf, dass der Kläger als Geschäftsführer verschiedener Firmen (Leistungsempfängerinnen) unternehmerisch tätig war, denen er in erheblichem Umfang Rechnungen mit gesondertem Ausweis von Umsatzsteuer erteilt hatte, die von den Leistungsempfängerinnen jedoch nur über Verrechnungskonten gebucht und über mehrere Jahre hinweg nicht bezahlt wurden. In den Rechnungen waren weder Zahlungsfristen genannt noch Fälligkeiten ausgewiesen. Die Prüferin war der Auffassung, dass ein zeitnaher Zufluss der Entgelte für die abgerechneten Leistungen beim Kläger nicht angestrebt worden sei, sondern hätte gezielt vermieden werden sollen.

Das Finanzamt widerrief daraufhin die Genehmigung zur Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten. Die sofortige Vornahme des Vorsteuerabzugs bei den Leistungsempfängerinnen bei fehlender Vereinnahmung der Entgelte für die Umsätze beim Kläger begründe bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die Gestattung missbraucht werde.

Die hiergegen gerichtete Klage blieb zunächst ohne Erfolg. Es liege ein krasser Missbrauch der Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten im Streitfall vor, da der Kläger nicht nur eine zeitweilige Belastung mit der bei der Besteuerung nach vereinbarten Entgelten vorzufinanzierenden Umsatzsteuer vermeiden und eine Kostenneutralität der Umsatzsteuer erreichen wolle, sondern in erheblichem Umfang ein Auseinanderklaffen von Steuerentstehung und Vorsteuerabzug zu Finanzierungszwecken zu erreichen versuche – so das FG. Doch der BFH ist anderer Auffassung und hat das Urteil der Vorinstanz verworfen.

Die wesentlichen Aussagen lauten:

Ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt darf, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, gemäß § 131 Abs. 2 Satz 1 AO ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft unter anderem (nur) widerrufen werden, wenn der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist. Selbst bei Existenz eines Widerrufsvorbehalts ist jedoch der Widerruf des begünstigenden Verwaltungsakts unzulässig, wenn der Erlass des Verwaltungsakts (zum Beispiel infolge einer Ermessensreduzierung auf Null) geboten war.

Die Finanzbehörde kann gemäß § 20 Abs. 1 UStG auf Antrag gestatten, dass ein Unternehmer die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG), sondern nach den vereinnahmten Entgelten berechnet. Die Gestattung der Ist-Besteuerung ist ein begünstigender sonstiger Ermessens-Verwaltungsakt.

Die Ablehnung des Antrags Ist-Besteuerung wäre ermessenswidrig, wenn sie auf sachwidrigen Gründen beruhen würde. Soweit ein Unternehmer wegen der Ist-Besteuerung Finanzierungsvorteile erlangt, ist dies allein kein Ablehnungsgrund hinsichtlich der Gestattung der Ist-Besteuerung.

Das Recht auf Vorsteuerabzug wird nach Art. 167, 179 Satz 1 MwStSystRL (vorbehaltlich der Bestimmung des Art. 178 MwStSystRL) während des gleichen Zeitraums ausgeübt, in dem es entstanden ist, das heißt, wenn der Anspruch auf die Steuer entsteht. Ein zeitliches Auseinanderfallen von Steuerentstehung und Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist unionsrechtlich nicht möglich. Anders ausgedrückt: Zu einem Missbrauch aufgrund eines vermeintlich „verfrühten“ Vorsteuerabzuges bei einer erst später abzuführenden Umsatzsteuer kann es kraft Unionsrechts nicht kommen. Folglich kann ein Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung auch keine angeblich missbräuchliche Gestaltung beseitigen.

Eine dem Art. 167 MwStSystRL vergleichbare Vorschrift enthält das nationale Recht bisher nicht ausdrücklich. § 13 regelt nur die Entstehung der Steuer und nicht die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Von der nach § 16 Abs. 1 UStG berechneten Steuer sind nach § 16 Abs. 2 UStG die in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen. § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG regelt, dass der Unternehmer unter anderem die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen kann.

Wenn der nationale Gesetzgeber von der unionsrechtlichen Regelung abweicht und das Vorsteuerabzugsrecht folglich vor dem Zeitpunkt der Entstehung der Steuerschuld begründet wird, liegt dies nicht an einem missbräuchlichen Verhalten des Steuerpflichtigen, sondern – wenn überhaupt – an der unzutreffenden Umsetzung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland.

Der Umstand, dass die Umsatzsteuer in den Fällen der Ist-Besteuerung erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht, führt nicht zu einer Gefährdung des Steueraufkommens. Vielmehr beruht dies auf der Einführung des § 20 UStG durch den nationalen Gesetzgeber.

Die Möglichkeit der Ist-Besteuerung nach § 20 UStG beruht zwar auf Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL, wonach die Verpflichtung zu einer gegebenenfalls mehrjährigen Vorfinanzierung der Umsatzsteuer abgemildert werden kann. Die insoweit gesetzlich geschaffene Möglichkeit, unter bestimmten, vom Gesetzgeber definierten Voraussetzungen die Entstehung der Steuer hinauszuschieben, ist seitens des Leistenden aber nicht missbräuchlich und betrifft auch nicht die Frage (des Zeitpunkts) des Vorsteuerabzuges. Hier bleibt es bei der Regelung des Art. 167 MwStSystRL.

Sofern das zeitliche Auseinanderfallen von Umsatzsteuerschuld und Vorsteuerabzug „bemängelt“ und – entsprechend Art. 167 MwStSystRL – davon ausgegangen wird, dass die Steuer schon geschuldet werden muss, um als Vorsteuer abgezogen werden zu können, wäre darüber – selbst bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 15 UStG – in den Besteuerungsverfahren der Leistungsempfänger zu entscheiden. Für ein Verfahren, in dem es um den Widerruf der Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten beim Leistenden geht, ist die Frage des Auseinanderfalls bedeutungslos.

Ist den Leistungsempfängern der Vorsteuerabzug nicht zu versagen, obwohl der Leistende die Umsatzsteuer möglicherweise noch nicht vereinnahmt hat, ist dies vom Mitgliedstaat Deutschland aufgrund seiner eigenen Regelungen hinzunehmen. Jedenfalls liegt hierin kein Widerrufsgrund für die zuvor gestattete Ist-Besteuerung.

Praxishinweise:                             

Man darf unterstellen, dass der Kläger im Urteilsfall das Hinauszögern der Umsatzsteuer-Entstehung bewusst gestaltet hat. Dies ist jedoch nicht missbräuchlich und führt folglich auch nicht dazu, dass eine einmal erteilte Genehmigung der Ist-Besteuerung widerrufen werden darf – und zwar auch dann nicht, wenn die ursprüngliche Genehmigung einen Widerrufsvorbehalt enthalten hat.

Es liegt am deutschen Gesetzgeber, fiskalisch möglicherweise ungewollte Ergebnisse zu unterbinden. Die Möglichkeit dazu hätte er nach den EU-rechtlichen Regelungen.

Der EuGH wird sich noch mit dem Vorlagebeschluss des FG Hamburg vom 10.12.2019 (1 K 337/17, Az. des EuGH C-9/20) befassen müssen. Dem Verfahren liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Die Kläger ist eine zur Umsatzsteuer optierende Vermietungsgesellschaft, die ein ihrerseits gemietetes Grundstück weitervermietete. Beiden Vertragsparteien war gestattet, die Steuer nach vereinnahmten Entgelten zu berechnen. Die Mietzahlungen wurden der Kläger teilweise gestundet, die Vorsteueransprüche machte sie immer erst geltend, wenn die Zahlung erfolgte. Diese Verfahrensweise wurde nach einer Außenprüfung beanstandet und die Vorsteuer nunmehr bereits im Zeitraum der Ausführung des Umsatzes – monatsweise Mietüberlassung – berücksichtigt. Infolge zwischenzeitlich eingetretener Verjährung konnte die Vorsteuer in den Änderungsbescheiden für vergangene Jahre nicht mehr berücksichtigt werden. Hiergegen richtete sich die auf den Unionsrechtsverstoß gestützte Klage, denn die Handhabung des FA könnte dem Unionsrecht widersprechen, das in Art. 167 MwStSystRL vorsieht, dass der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers erst entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht; Ausnahmen für Leistungen von Ist-Versteuerern sind nicht vorgesehen. Die Frage der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit dem Unionsrecht hat das FG Hamburg dem EuGH im Wege des Vorabersuchens vorgelegt.

Auch wenn das zeitliche Auseinanderfallen von Umsatzsteuerschuld und Vorsteuerabzug nicht als missbräuchlich gewertet wird, muss aber natürlich dennoch gesichert sein, dass die entsprechenden Verträge tatsächlich durchgeführt werden und dass auf Seiten des Leistungsempfängers auch der „Wille zur Bezahlung“ vorliegt. Sollte dies angezweifelt werden, dürfte der Vorsteuerabzug entweder von vornherein entfallen oder aber über § 17 UStG berichtigt werden. Allerdings wird auch hierüber im Besteuerungsverfahren des Leistungsempfängers und nicht des Leistenden entschieden.

Mit der Frage der Rücknahme der Gestattung der Ist-Besteuerung hat sich der BFH auch mit Urteil vom 11.11.2020 (XI R 41/18) befasst. Hier ging es darum, dass die Schätzung des voraussichtlichen Gesamtumsatzes im Gründungsjahr viel zu niedrig war. In einem solchen Fall, das heißt wenn die Schätzung „unseriös“ war, ist die Rücknahme der Gestattung der Ist-Besteuerung rechtmäßig.

2 Gedanken zu “Zum Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung

  1. Der EuGH hat bereits mit Urteil vom 10.02.2022 über die Vorlage des FG Hamburg entschieden un festgestellt, dass die deutsche Regelung unionsrechtswidrig ist, soweit ein Vorsteuerabzug bereits möglich ist, obwohl die korrespondierende Steuer bei Ist-Versteuerung mangels Vereinnahmung noch nicht entstanden ist..

  2. Vielen Dank. Sie haben natürlich Recht. Der EuGH hat bereits entschieden, dass das Recht des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers auf Vorsteuerabzug (erst) entsteht, wenn der Anspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer auf die entsprechende abziehbare Steuer entsteht (EuGH-Urteil vom 10.02.2022, C-9/20). Die deutsche Regelung verstößt gegen Art. 167 MwStSystRL. Allerdings können sich Leistungsempfänger noch immer auf die deutsche Regelung berufen, wonach der Vorsteuerabzug bereits mit der Ausführung der Leistung und nicht erst mit der Entrichtung des Entgelts zulässig ist (siehe Abschnitt 15.2 UStAE).

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