Hurra: Es lebe das overriding principle?

Der Gesetzgeber musste vor Jahrzehnten bei der Umsetzung europäischen Rechts die Generalnorm, d. h. den sogenannten true and fair view, in das deutsche Bilanzrecht aufnehmen. Danach hat der Abschluss einer Kapitalgesellschaft unter Beachtung der Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu vermitteln (§ 264 Abs. 2 Satz 1 HGB). Seither ist die Bedeutung dieser Norm umstritten. Insbesondere wird erörtert, ob mit Verweis auf die Generalnorm konkrete Einzelgrundsätze des Gesetzes überschrieben werden können, d. h. ob ihr die Bedeutung eines overriding principle zukommt. Kann ein neueres BFH-Urteil die Diskussion erneut befeuern?

Aus dem angelsächsischen Rechnungslegungsverständnis hatte die Generalnorm den Weg in den ersten europäischen Harmonierungsversuch zur Rechnungslegung gefunden. Nach Umsetzung der Generalnorm in deutsches Recht war umstritten, ob auch der Gedanke des overriding principle damit Eingang in deutsches Bilanzrecht gefunden hat. Dagegen spricht zunächst der Wortlaut des Gesetzes. Danach werden in besonderen Ausnahmefällen, in denen die Generalnorm verletzt würde, zusätzliche Angaben im Anhang, jedoch keine Außerkraftsetzung der einzelnen Gesetzesnormen gefordert (§ 264 Abs. 2 Satz 2 HGB). Dagegen wurde beispielsweise vorgebracht, der deutsche Gesetzgeber habe europäisches Recht hier nicht richtlinienkonform umgesetzt. Dem folgen aber deutsche Bilanztraditionalisten nicht. Aufsätze und Monographien zu diesem Thema finden sich in den letzten Jahrzehnten einige. Von einer einhelligen Auffassung kann man kaum sprechen.

Aufhorchen lässt hier ein neues Urteil des Bundesfinanzhofs. Dabei ging es um die Bildung von bilanziellen Bewertungseinheiten in der Steuerbilanz. Nach aktueller, durch das Bilanzrechtsmodernisierungssetz (BilMoG) eingeführter Rechtslage ist die Lage relativ klar. Das Handelsbilanzrecht lässt solche Bewertungseinheiten bei Erfüllung der Voraussetzungen zu (§ 254 HGB). Damit werden durch die Spezialregelung die allgemeinen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung zur Einzelbewertung und Verlustantizipation ausgehebelt. Steuerlich sind handelsbilanziell gebildete Bewertungseinheiten nachzuvollziehen, was schon vor dem BilMoG eingeführt wurde (§ 5 Abs. 1a EStG).

Vor dem BilMoG war die Möglichkeit zur handelsbilanziellen Bildung von Bewertungseinheiten umstritten und bei den Befürwortern als Vertreter der herrschenden Meinung waren insbesondere die Voraussetzungen und der Anwendungsbereich in der Diskussion. Auf dieser Basis hatte der BFH einen Streitfall zu entscheiden, bei dem es darum ging, ob vor Geltung der neuen Sonderregelungen im HGB und EStG bereits eine Bewertungseinheit zu bilden war. Das Gericht lehnt die Bildung einer Bewertungseinheit im konkreten Urteilsfall ab, weil ein Risikoausgleich nicht bejaht werden konnte. Damit ist die Kernvoraussetzung jeder Bewertungseinheit betroffen. Zudem wird eine rückwirkende Anwendung von § 254 HGB abgelehnt.

Auf dieser Basis ist jedoch die Argumentation des Gerichts zur alten Rechtslage vor BilMoG interessant: „Konsentiert war allenfalls, dass unter dem Gesichtspunkt des „True and fair view“ (vgl. § 264 Abs. 2 HGB a.F.) ein Abgehen vom Einzelbewertungsgrundsatz dann geboten sein kann, wenn dessen strikte Berücksichtigung in Verbindung mit dem Imparitätsprinzip des § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB a.F. dazu führen würde, dass ein den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen des Unternehmens widersprechendes Bild entsteht …“ (BFH-Urteil v. 2.12.2015, I R 83/13, Rz. 27).

Im Entscheidungsfall hat diese Frage keine Bedeutung erlangt, weil es nach Auffassung des Gerichts schon an einer wirksamen Sicherungsbeziehung mangelte. Allgemein lässt sich jedoch herauslesen, dass der BFH durchaus eine Durchbrechung einzelner Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung mit Verweis auf die Generalnorm befürwortet, also ein principle override durch den true and fair view. Der BFH tut dies ohne Not, hätte er doch auch auf die Ausnahmeregelung von § 252 Abs. 2 HGB verweisen können, der eine Durchbrechung des Einzelbewertungsgrundsatzes und des Imparitätsprinzips in begründeten Ausnahmefällen zulässt. Stattdessen wird auf die Generalnorm zurückgegriffen bzw. wird deren Verletzung als begründeter Ausnahmefall im Sinne von § 252 Abs. 2 HGB gewertet. Das kann den Befürwortern eines overriding principle weiteren Auftrieb geben.

Weitere Infos: BFH, Urteil vom 02.12.2015 – I R 83/13

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

2 + 3 =