Die Richtsatzsammlung, die das BMF Jahr für Jahr herausgibt, hat für den einen oder anderen Betriebsprüfer quasi Gesetzescharakter und sie wird – auch ohne formelle Beanstandungen der Buchhaltung – zuweilen als Schätzungsgrundlage genutzt.
Schon seit langem steht die Richtsatzsammlung der Finanzverwaltung aber in der Kritik, denn es erschließt sich nicht wirklich, wie diese ihr Zahlenmaterial zusammengetragen hat. Und in der Tat sind die Zeiten, als Betriebe untereinander gut vergleichbar waren, eigentlich vorbei. Dazu ist das Wirtschaftsleben zu umfassend geworden – so zumindest meine Meinung. Dennoch hat der BFH soeben entschieden, dass ein Steuerpflichtiger keinen Anspruch auf Informationen hat hinsichtlich der Unterlagen, die der Erstellung der amtlichen Richtsatzsammlung zugrunde liegen (BFH-Urteil vom 9.5.2025, IX R 1/24).
Der Sachverhalt zur steuerlichen Richtsatzsammlung und der Problematik der Offenlegung
Der Einfachheit halber zitiere ich aus der Pressemitteilung des BFH vom 10.7.2025: Ein Steuerbürger beantragte unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz des Landes Mecklenburg-Vorpommern nähere Informationen über das Zustandekommen der steuerlichen Richtsatzsammlung. So wollte er unter anderem vom zuständigen Finanzministerium wissen, wie viele Betriebe einer Außenprüfung unterzogen worden seien, um die Prüfungsdaten als Grundlage für die Richtsatzsammlung zu verwenden, und nach welchen Gesichtspunkten diese Betriebe ausgewählt werden. Zudem bat er um die Überlassung der jeweiligen Prüfungsauswertungen.
Das Finanzministerium Mecklenburg-Vorpommern erteilte dem Antragsteller daraufhin zwar Auskünfte in Form allgemeiner Ausführungen zur Entstehung, Bekanntgabe und Anwendung der amtlichen Richtsatzsammlung. Weitere Informationen könnten wegen der Vertraulichkeit der Beratungen der für die Erstellung der Richtsatzsammlungen zuständigen Bund-Länder-Arbeitsgruppe aber nicht erteilt werden. Der BFH lehnt einen Anspruch auf Offenlegung der der Richtsatzsammlung zugrundeliegenden Statistiken und Unterlagen ebenfalls ab.
Die Begründung
Im Finanzverwaltungsgesetz bestehe mit § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG eine spezialgesetzliche Regelung, die eine Vertraulichkeit hinsichtlich des Zustandekommens von Schreiben des BMF und damit auch der Richtsatzsammlung anordne. Denn die Sitzungen der für die Ermittlung der Richtsätze zuständigen Gremien erforderten einen allein an der Sache orientierten freien und vertrauensvollen Austausch von Argumenten und eine unbeeinflusste Abstimmung.
Die Sitzungsinhalte und zugehörigen Unterlagen (zum Beispiel Protokolle, Entwürfe) seien daher grundsätzlich vertraulich und nicht zur Weitergabe an Empfänger außerhalb der Finanzverwaltung bestimmt. Damit sei ein Informationsanspruch nach dem Informationsfreiheitsgesetz Mecklenburg-Vorpommern ausgeschlossen.
Denkanstoß
Das Urteil bedeutet nicht, dass die Richtsatzsammlung nun ohne Weiteres zur Verprobung von Umsätzen und Gewinnen dienen darf. Die Schätzung anhand der Werte der Richtsatzsammlung unterliegt in vollem Umfang der tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung – darauf weist der BFH explizit hin.
Sie werden sich jetzt fragen, warum ich das aktuelle BFH trotz dieser Aussage zum Aufreger des Monats gekürt habe. Nun, dazu darf ich zunächst auf das FG-Verfahren hinweisen, das dem BFH-Beschluss vom 28.5.2020 (X B 12/20) vorausgegangen ist.
Wer dieses verfolgt hat, wird feststellen, dass die Aussage des BFH doch arg in Zweifel zu ziehen ist (vgl. Blog-Beitrag „Sind die Richtsätze des BMF eine geeignete Schätzungsmethode?„). Bei allem Respekt: Der BFH verkennt die Praxis der Finanzämter und sogar der Finanzgerichte. Ich wüsste auch nicht, was die Finanzverwaltung eigentlich zu verbergen hat.
Im Übrigen habe ich die maßgebende Aussage des BFH verkürzt wiedergegeben. Komplett lautet sie: „Die Vertraulichkeitsregelung in § 21a Abs. 1 Satz 4 und 5 FVG bewirkt auch keine Verkürzung des dem Steuerpflichtigen zustehenden gerichtlichen Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG. Steuerbescheide, die Besteuerungsgrundlagen enthalten, die mittels Schätzung (§ 162 AO) auf der Grundlage der Richtsatzsammlung ermittelt worden sind, können vom Adressaten mit Einspruch und finanzgerichtlicher Klage angefochten werden. Die Schätzung anhand der Werte der Richtsatzsammlung unterliegt in vollem Umfang der tatsächlichen und rechtlichen Überprüfung (vgl. u.a. Klein, DStR 2024, 1335, 1338).“
Umgekehrte Beweislast, dennoch Vorteile für Betriebsinhaber möglich
Das klingt schön und gut: Doch eine Klage muss ich begründen, sie kostet Geld und ist langwierig. Warum soll mein Anspruch erst im Rahmen einer Klage geprüft werden können? Warum muss nicht – umgekehrt – zunächst das Finanzamt umfassend (!) und konkret (!) darlegen, wie es das Zahlenmaterial ermittelt hat? Der BFH hat mit seinem Urteil „im Handstreich“ die Beweislast umgekehrt. Das wird er so natürlich nicht zugeben, doch ich bin sicher, dass die Praxis dies bestätigen wird.
Immerhin kann die Richtsatzsammlung einem Betriebsinhaber aber auch zum Vorteil gereichen. Das soll nicht verschwiegen werden. So hat der BFH entschieden: Eine Hinzuschätzung wegen Verstoßes gegen Aufzeichnungspflichten kommt nicht in Betracht, soweit der Steuerpflichtige darauf vertrauen durfte, dass er von einer ihm durch das BMF eingeräumten Aufzeichnungserleichterung Gebrauch gemacht hat (BFH-Urteil vom 16.9.2024, III R 28/22).
Auch soll nicht verschwiegen werden, dass zu der Frage, ob und – wenn ja – unter welchen Voraussetzungen ein „äußerer Betriebsvergleich“ anhand der Richtsätze der amtlichen Richtsatzsammlung des BMF zulässig ist, noch ein Verfahren beim BFH anhängig. Das heißt, es ist noch zu klären, ob die Richtsatzsammlung als Grundlage für Hinzuschätzungen im Rahmen einer Betriebsprüfung dienen kann (BFH-Beschluss vom 14.12.2022, X R 19/21).
Mich würde Ihre Auffassung zu dem Thema interessieren. Ich hoffe auf eine rege Diskussion.
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Ein Beitrag von:
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- Steuerberater in Herten/Westf. (www.herold-steuerrat.de)
- Autor zahlreicher Fachbeiträge
- Mitglied im Steuerrechtsausschuss des Steuerberaterverbandes Westfalen-Lippe
Warum blogge ich hier?
Als verantwortlicher Redakteur und Programmleiter zahlreicher Steuerfachzeitschriften, meiner früheren Tätigkeit in der Finanzverwaltung und meiner über 25-jährigen Arbeit als Steuerberater lerne ich das Steuerrecht sowohl aus theoretischer als auch aus praktischer Sicht kennen. Es reizt mich, die Erfahrungen, die sich aus dieser Kombination ergeben, mit den Nutzern des Blogs zu teilen und freue mich auf viele Rückmeldungen.