Urlaubsverfall nach § 7 Abs. 3 BUrlG bei Krankheit und Erwerbsminderung: BAG holt Entscheidung des EuGH ein

In zwei neuen Entscheidungen hat das BAG den EuGH zur Vorabentscheidung angerufen, ob ein Urlaubsverfall bei Krankheit und bei voller Erwerbsminderung v. 7.7.2020) voraussetzt, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, ihn ferner darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch “aus freien Stücken“ nicht genommen hat (BAG 9 A 401/19 (A) und (BAG 9 AZR 245/19 (A) v. 7.7.2020).

Hintergrund

Nach § 7 Abs. 3 BUrlG muss Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf die ersten drei Monate des folgenden Kalenderjahres ist nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen.

Diese Bestimmung hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts mehrfach unionsrechtskonform ausgelegt: Im Anschluss an die Entscheidung des EuGH  (v. 6.11. 2018 – C-684/16 -) zu Art. 7 RL 2003/88/EG (Arbeitszeitrichtlinie) sowie zu Art. 31 Abs. 2 EU-Grundrechte-Charta  hat das BAG entschieden, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann nach § 7 Abs. 3 BUrlG am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor konkret aufgefordert hat, seinen Urlaub rechtzeitig im Urlaubsjahr zu nehmen, ihn darauf hingewiesen hat, dass dieser andernfalls verfallen kann, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat (BAG v. 19.2.2019 – 9 AZR 541/15).

Für den Fall, dass der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war, versteht das BAG § 7 Abs. 3 BUrlG nach Maßgabe des EuGH (v. 22.11.2011 – C-214/10 – ) außerdem bislang dahin, dass gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen (BAG v. 7.8.2012 – 9 AZR   353/10).

Sachverhalte

Im ersten Streitfall (BAG 9 AZR 401(19 (A)) war die Klägerin seit ihrer Erkrankung im Verlauf des Jahres 2017 durchgehend arbeitsunfähig. Von ihrem Urlaub für das Jahr 2017 nahm sie 14 Urlaubstage nicht in Anspruch. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit der Klage begehrt die Klägerin festzustellen, dass ihr die restlichen 14 Urlaubstage aus dem Kalenderjahr 2017 weiterhin zustehen. Sie hat die Auffassung vertreten, der Urlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Die Beklagte hat geltend gemacht, der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 sei spätestens mit Ablauf des 31.3.2019 erloschen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.

Im zweiten Streitfall (BAG 9 AZR 245/19 (A) v. 7.7.2020) war der Kläger als Schwerbehinderter anerkannt. Seit dem 1.12.2014 bezog er eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, die zuletzt bis August 2019 verlängert wurde. Er hat u.a. geltend gemacht, ihm stünden gegen die Beklagte noch 34 Arbeitstage Urlaub aus dem Jahr 2014 zu. Diese Ansprüche seien nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Obliegenheiten, an der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub mitzuwirken, nicht nachgekommen sei. Die Beklagte war der Ansicht, der im Jahr 2014 nicht genommene Urlaub des Klägers sei mit Ablauf des 31.3.2016 erloschen. Sei der Arbeitnehmer – wie vorliegend der Kläger aufgrund der vollen Erwerbsminderung – aus gesundheitlichen Gründen langandauernd außerstande, seinen Urlaub anzutreten, trete der Verfall 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres unabhängig von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten ein. Die Vorinstanzen haben deshalb die Klage abgewiesen.

BAG holt Vorabentscheidung des EuGH ein

Für die Entscheidung, ob der Urlaub der Klägerin aus dem Jahr 2017 am 31.3.2019 oder ggf. zu einem späteren Zeitpunkt verfallen ist, kommt es für das BAG (9 AZR 401/19 (A) v.7.7.2020) auf die Auslegung von Unionsrecht an, die dem EuGH vorbehalten ist. Denn für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es nunmehr einer Klärung durch den EuGH, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können. Für die Entscheidung des Rechtstreits BAG 9 AZR 245/19 (A) bedarf es ebenfalls nunmehr einer Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Zeitpunkt des Eintritts der vollen Erwerbsminderung zumindest teilweise hätte nehmen können.

Ausblick

Die BAG-Rechtsprechung aus dem Jahr Jahr 2019 (9 AZR 541/15) hat hohe Wellen geschlagen: Der Arbeitgeber kann sich nach der EuGH-Auslegung, der sich das BAG angeschlossen hat, auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers nämlich nur berufen, wenn er zuvor konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge getragen hat, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage war, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht nimmt, am Ende des Bezugszeitraums oder eines zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird. Der Arbeitgeber trägt die Beweislast für die Erfüllung dieser Mitwirkungsobliegenheiten. Eine Verpflichtung des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer dazu zu zwingen, diesen Anspruch tatsächlich wahrzunehmen, besteht allerdings nicht.

Das bedeutet in der Praxis

Bei einem richtlinienkonformen Verständnis des § 7 Abs. 3 BUrlG ist die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristenregimes.

Es spricht vieles dafür, dass der EuGH dem BAG nicht anders antworten wird als im November 2018 (EuGH C – 684/16). Deshalb dürfte auch in den Fällen des nicht genommenen Erholungsurlaub bis Ende des Übertragungszeitraumes (§ 7 Abs. 3 BUrlG) wegen Krankheit oder wegen anhaltender Erwerbsminderung mit einer Fortentwicklung der BAG-Rechtsprechung mit unionsrechtskonformer Auslegung zu rechnen sein. Sollte dies zutreffen, sollten Arbeitgeber peinlich auf die Einhaltung ihrer Hinweispflichten und Mitwirkungsobliegenheiten achten.

Quellen
BAG Pressemitteilungen 20/2020 und 21/2020 vom 7.7.2020

 

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