Abzweigung des Kindergeldes: Familienkasse und Finanzgerichte dürfen es sich nicht leicht machen

Bereits mehrfach habe ich im Rahmen des NWB-Expertenblogs den Umgang der Familienkassen und Sozialträger mit behinderten Menschen und ihren Angehörigen kritisiert (vgl. z.B. den Blog-Beitrag „Wer beurteilt die Erwerbs(un)fähigkeit eines behinderten Kindes?“). Dass der fragwürdige Umgang aber nicht bei den Behörden halt macht, sondern zuweilen auch die Finanzgerichte betrifft, zeigt ein Sachverhalt, über den der BFH jüngst zu entscheiden hatte- Vorweg: Der BFH hat glücklicherweise zugunsten der Eltern entschieden, doch offenbar hat die Vorinstanz ihre Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts in eklatanter Weise verletzt und den Ausführungen der Familienkasse einfach Glauben geschenkt, obwohl sich bereits nach Aktenlage Zweifel hätten aufdrängen müssen. Konkret ging es um die Frage, ob die Abzweigung des Kindergeldes nach § 74 Abs. 1 EStG gerechtfertigt war (BFH-Urteil vom 27.5.2020, III R 58/18).

Der Sachverhalt:

Der Sohn der Klägerin lebt in einem Wohnheim für blinde Menschen und erhält Eingliederungshilfe. Die Mutter bezog für ihn Kindergeld, das allerdings seit Jahren nicht in voller Höhe ausgezahlt wurde. Vielmehr wurde dieses durch die Familienkasse an den Sozialträger abgezweigt. Hiergegen wehrte sich die Mutter. Sie trug vor, ihr entstünden unstreitig monatliche Aufwendungen von mehr als 500 EUR für den Unterhalt des Sohnes. Sie wies unter anderem darauf hin, dass sie in ihrer Wohnung ein Zimmer für ihren Sohn vorhalte. Einspruch und Klage blieben jedoch erfolglos. Die Finanzrichter waren der Ansicht, dass die Mutter ihrer Unterhaltspflicht nicht nachgekommen sei, da sie die zum Lebensbedarf ihres Sohnes gehörenden laufenden Kosten der Unterbringung im Blindenheim nicht übernommen habe. Die Abzweigungsentscheidung sei ermessensfehlerfrei zustande gekommen. Die Familienkasse habe den Sachverhalt ordnungsgemäß ermittelt. Doch der BFH gab der Revision statt.

Die Begründung des BFH:

Sind die Voraussetzungen für eine Abzweigung dem Grunde nach erfüllt, hat die Familienkasse eine Ermessensentscheidung darüber zu treffen, ob und in welcher Höhe das Kindergeld an den Sozialleistungsträger abzuzweigen ist, der dem Kind anstelle der eigentlich unterhaltsverpflichteten Eltern Unterhalt gewährt. Bei der Ermessensausübung sind auch geringe Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten für das behinderte Kind zu berücksichtigen, sofern dieser nicht selbst Sozialleistungen bezieht. Hierbei sind die den Eltern im Zusammenhang mit der Betreuung und dem Umgang mit dem Kind tatsächlich entstandenen und glaubhaft gemachten Aufwendungen anzusetzen.

Zu den Unterhaltsleistungen für ein in einer Einrichtung untergebrachtes Kind gehört auch die Zurverfügungstellung eines Zimmers in der Wohnung des Kindergeldberechtigten. Sind die Leistungen mindestens so hoch wie das Kindergeld, ist eine Abzweigung nicht ermessensgerecht. Beachtet die Familienkasse diese Grundsätze nicht, führt dies zu einem Ermessensfehler, den das Finanzgericht zu beanstanden hat. Im Rahmen seiner Überprüfung muss das Gericht auch feststellen, ob die Familienkasse ihre Entscheidung auf der Grundlage eines einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts getroffen hat und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigt hat, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind. Im Urteilsfall drängte sich bereits nach Aktenlage die Annahme auf, dass der Klägerin zumindest Aufwendungen für ein in ihrer Wohnung für den Sohn vorgehaltenes Zimmer entstanden waren. Damit konnte die Familienkasse das Entstehen von Unterhaltsaufwendungen jedenfalls wegen Kosten für ein eigenes Zimmer des Sohnes in ihrem Haushalt nicht ohne Weiteres wegen fehlender Nachweise verneinen.

Hinweis:

Übrigens hat das FG selbst einen angebotenen Zeugenbeweis abgelehnt. Schon irgendwie seltsam: Was veranlasst ein Gericht dazu, die Aktenlage unbeachtet zu lassen, aber gleichzeitig auf eine Zeugeneinvernahme zu verzichten? Im Urteil der Vorinstanz heißt es: „Der Beweisantrag ist für die Entscheidung unerheblich und konnte daher übergangen werden.“ Wer hingegen die Entscheidung des BFH liest, kommt eher zu dem Schluss, dass gar kein vernünftiger Zweifel an der Übernahme von Unterhaltsaufwendungen bestehen konnte. In dem Revisionsurteil heißt es unter anderem: „Die Familienkasse ging offensichtlich selbst davon aus, dass die Klägerin in ihrer Wohnung eine Unterkunft für F vorhielt, da sie in ihrer Anfrage vom 12.11.2014 die Klägerin um Auskunft über die Häufigkeit der Fahrten zur Abholung des F über die Wochenenden bat.“

Weitere Informationen:
BFH, Urteil v. 27.05.2020 – III R 58/18 -nv-